Antiautoritäre Erziehung, Vermenschlichung und verzerrte Realitäten
Heute beim Frühstück lese ich einen Artikel zum
Thema Jungendgewalt. Tenor der Autoren ist, dass heute mehr Gewalt von
Jugendlichen ausgeht. Begründet wird dies mit vermehrter antiautoritärer
Erziehung in den letzten Jahrzehnten. Zudem werden weitere Gründe wie mediale
Gewalt und Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher ins Feld geführt. Beim Lesen
des Artikels gehen Berufs- und Interessenbedingt gleich meine Gedanken in
Richtung Hunde. Allzu oft hört man auch im Bereich der „Hundeerziehung“ immer
wieder davon, dass man heute vermehrt Probleme mit Hunden habe. Und auch hier
wäre die antiautoritäre Erziehung schuld.
Okay, so etwas wird immer mal wieder schnell und
pauschal dahingesagt. Abgesehen davon, dass eigentlich niemand genau weiß, was
antiautoritäre Erziehung genau bedeutet und in welchem Umfang sie wie und wo
angewendet wird und wurde. Man kann sicherlich geschichtliche Veränderungen der
menschlichen Gesellschaft in westlichen Industrieländern im sozialen Bereich entdecken.
Seit den 1960er Jahren ist der Umgang der Menschen untereinander weniger durch Strenge
und auf Strafe beruhender Erziehungsmethoden geprägt, als in den Dekaden zuvor.
Strenge, autoritäre Familienmodelle sind in den Hintergrund gedrängt worden.
Wenn man möchte, kann man das unter antiautoritärer Erziehung verstehen.
Berücksichtigen muss man aber auch, dass fast Zeitgleich ein mediales Zeitalter
begann (Radio, TV, Massenzeitschriften, Computerspiele, Kommunikationsmedien etc.),
welches vorher so nicht existierte. Möglich, dass das alles zusammen die
soziale Intelligenz des Menschen heute überfordert und deshalb vermehrt
Probleme im sozialen Leben der Menschen untereinander auftreten. Wie gesagt,
möglich – ich bin mir nicht sicher. Vielleicht ist auch nicht die Gewalt, die
von Jugendlichen ausgeht mehr geworden – sondern durch die mediale Entwicklung
erfährt man einfach mehr davon. Wer weiß…
Man kann aber festhalten, dass die vermeintliche „antiautoritäre
Erziehung“ beim Menschen ungefähr in den 1960er Jahren begann.
Hundeerziehung antiautoritär
– 1960er Jahre
Heute findet man diesen Pauschalbegriff auch oft im
Zusammenhang mit der Hundeerziehung. Auch hier wird gern pauschal gesagt, dass
Hundeprobleme heute durch „antiautoritäre Erziehung“ entstehen würden. Okay,
auch hier kann man wieder einmal feststellen, dass so etwas gern schnell und
pauschal dahingesagt wird. Aber auch hier kann man sich dazu einige Gedanken
machen. Nimmt man nämlich den Zeitraum, in dem die „antiautoritäre Erziehung“
innerhalb der menschlichen Gesellschaft begann. Die 1960er Jahre. Wurden in der
Zeit alle Hunde autoritär erzogen und „funktionierten“ daher besser? Wohl eher
nicht. In der Zeit wurden die meisten Hunde vermutlich kaum bis gar nicht
erzogen. Nur wenige Hunde wurden in einigen Hundesportvereinen gezielt für den
Sportzweck trainiert, aber Otto-Normal-Hund genoss kaum Erziehung. Ihm wurde
mal etwas mit lauter Stimme verboten, das war es schon. Im Prinzip
funktionierte das Zusammenleben von Mensch und Hund komplett ohne Autorität, es
gelang durch die Fähigkeit von Mensch und Hund, sich sozialen Lebewesen und
Gegebenheiten anzupassen. Also, als Menschen begannen, ihren Nachwuchs mit
weniger Autorität zu erziehen, wurden Hunde kaum bis gar nicht ernsthaft
erzogen. Wenn man so möchte, war früher die antiautoritäre Hundeerziehung
völlig normal. Und, es wurde weit weniger von Problemen zwischen Mensch und
Hund berichtet, als heute – oder: große und kleinere Probleme wurden nicht so
stark bewertet und thematisiert. Pragmatismus bezogen auf den Hund war wohl
eher an der Tagesordnung.
Hundeerziehung
autoritär - 2014
Heute ist das anders. Es werden nicht nur einige
Hunde für den Sport trainiert, heute werden sehr viele Hunde gezielt erzogen. Gab
es in den 1960er Jahren praktisch keine Hundeschulen, eröffnet heute gefühlt
jeden Tag eine neu. Und wenn man sich in diesem Berufsfeld auskennt weiß man,
dass heute in einer Mehrheit der Hundeschulen nach streng autoritären Mustern
erzogen und ausgebildet wird. Wenn es manchem auch so vorkommen mag, dass in
der Hundeerziehung mehrheitlich auf Gewalt, Unterdrückung und Autorität
verzichtet wird, zeigt eine genaue Betrachtung der Realität ein anderes Bild. Aus
meiner Erfahrung arbeiten heute ca. 80% der Hundeschulen nach Hierarchie- und
Rangordnungsgedanken mit stark autoritärer Ausrichtung.
Welchen Sinn das Verhaltensbiologisch macht, ist etwas
anderes, was hier nicht thematisiert werden soll.
2014 mehr Probleme?
Für mich persönlich ist es aber interessant, die
Logik an sich einmal zu betrachten. Es wird gesagt, dass die vermeintlich
antiautoritäre Hundeerziehung heute zu vielen Problemen in der Hundehaltung
führen würde. Eine genaue Betrachtung der Historie und der Entwicklung der
Gesellschaft zeigt aber, dass Hunde, im Gegensatz zu Menschen, heute wesentlich
autoritärer erzogen werden als vor 50 Jahren. Und die Probleme in der
Hundehaltung in der Wahrnehmung eher zugenommen haben. Das sind
Gedankenanstöße, zu denen sich jeder seine eigenen Gedanken machen kann – auch meine
eigene Erkenntnisfindung dazu ist nicht abgeschlossen…
Interessant finde ich in dem Zusammenhang nur, dass
man die Entwicklung der menschlichen Erziehung untereinander als Erkenntnis so
pauschal und unreflektiert auf Hunde überträgt – ohne sich ernsthaft über reale
Entwicklungen in dem Bereich Gedanken zu machen. Man vermenschlicht da den Hund
und die Geschichte der Hundeerziehung. Viele Menschen lehnen eine Vermenschlichung
des Hundes im emotionalen Bereich ab (z.B. im Punkt Empfindungen wie Schmerz, Trauer,
Freude, Zuneigung). Obwohl man die Gefühlswelt nach heutigen Erkenntnissen
durchaus mit der menschlichen vergleichen kann. Auf der einen Seite wird also
eine logische „Vermenschlichung“ der Emotionen abgelehnt. Willkürliche Konstruktionen
wie eine vermeintlich antiautoritäre Hundeerziehung aber über die Maßen vermenschlichend
ausgebeutet. Komplizierte Spezies, diese Menschen…
Soziale Intelligenz
Okay, abschließend muss ich natürlich noch
klarstellen, dass ich nicht der Meinung bin, dass man Hunde überhaupt nicht
erziehen sollte und alles wäre gut. In der heutigen Umwelt sollten Hunde einige
grundsätzliche Dinge lernen. Ich bin aber auch der Meinung, dass der wichtigste
Teil im Zusammenleben von Mensch und Hund die Fähigkeit der Anpassung ist . Die
soziale Intelligenz von Mensch UND Hund…
…obwohl – der Mensch hält sich ja immer für ein sehr
intelligentes Lebewesen. Das mag bezogen auf einige kognitive Fähigkeiten im
abstrakten Bereich durchaus zutreffen. Aber im Bereich soziale Intelligenz bin
ich nicht wirklich davon überzeugt, dass er Hunden überlegen ist ;-)