Die Strafe, die zum Leben gehört


Seit längerer Zeit trage ich mich mit dem Gedanken, etwas über Lerntheorien zu veröffentlichen, weil nach meiner Erfahrung darüber nicht immer aktuelle Ansichten verbreitet werden. Oder teilweise Interpretationen kursieren, die Philosophien rechtfertigen sollen. Darum mal ein Versuch, die Lerntheorien und den Begriff Strafe sachlich näher zu erläutern. Der Text ist etwas lang geworden, was aber aufgrund des Themas nicht anders geht, obwohl ich schon versucht habe, ihn kurz und verständlich zu halten. Und auch wenn er zu Beginn vielleicht etwas verwirrend sein mag, würde ich mich freuen, wenn er komplett gelesen wird, weil er nur so ein rundes Bild ergeben kann.
Die Lerntheorien
Mit der Erklärung von Lernprozessen im Allgemeinen beschäftigen sich drei wichtige Lerntheorien: Der Behaviorismus (Lernen durch Verstärkung), der Kognitivismus (Lernen durch Einsicht und Erkenntnis) sowie der Konstruktivismus (Lernen durch persönliches Erfahren, Erleben und Interpretieren).
Die Theorien liefern, jede für sich betrachtet, eine logische Erläuterung für den Ablauf von Lernprozessen, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Erklärungsansätze erheblich voneinander.
Der Behaviorismus
Kern der behavioristischen Theorie ist die Auseinandersetzung mit dem Verhalten eines Individuums. Das Lebewesen wird als Produkt seiner Umwelt und seiner Instinkte betrachtet. Psychische Aspekte des Lernens werden hier nicht berücksichtigt, das lernende Individuum ist demnach eine Art „Black Box“. Seine Handlungen werden von äußeren Bedingungen (Reizen) gesteuert. Lernen basiert dem Behaviorismus zufolge auf Reiz-Reaktions-Mustern, was bedeutet, dass auf einen bestimmten Reiz unweigerlich eine bestimmte Reaktion folgt. Erwünschte Reaktionen werden verstärkt, also häufiger gezeigt, wenn sie für den Lernenden angenehme Folgen haben, und unerwünschte Reaktionen lassen sich dadurch reduzieren, dass sie für den Lernenden unangenehme Folgen haben. Von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg sind also Belohnung und Bestrafung. Die sogenannte operante Konditionierung findet im Bereich der Hundeausbildung häufig Anwendung.
Der Behaviorismus leugnet komplett und bewusst das Vorhandensein innerer Vorgänge, die entgegen der äußeren Reize einen Einfluss auf das Verhalten haben können. An dieser Stelle ein kleines Beispiel für die operante Konditionierung durch äußere Reize – oder auch Lernen durch Versuch und Irrtum. Nehmen wir für das Beispiel ein Wildtier, hier vielleicht einen Wolf. Ein Wolf versucht einen Fluss mit starker Strömung zu überwinden springt hinein. Sein Vorhaben gelingt nicht und ist mit einer unangenehmen, nassen und schmerzhaften Konsequenz verbunden. Er wird operant konditioniert, die äußeren Umstände habe in lernen lassen, dass man nicht in einen reißenden Fluss springt.
Ein weiteres Beispiel ist, wenn der junge Wolf probiert auf einem Baumstamm zu balancieren. Er versucht es, fällt nicht herunter und bekommt aufgrund seines Erfolges ein gutes Gefühl, eine angenehme Konsequenz. Er hat durch Versuch gelernt, auf einem Baum zu balancieren. Er wurde operant konditioniert.
Konditionierung, so definiert, gibt es sicher und ist ein Teil des Lernens.
Trotzdem wird der Behaviorismus heute vor allem kritisiert, weil er Lernprozesse nur mit äußerer Einwirkung erklärt und dabei psychologische Aspekte wie die Fähigkeit, individuelle Problemlösungen zu finden, außer Acht lässt.
Der Kognitivismus
Diese Aspekte berücksichtigt eine weitere Lerntheorie – Der Kognitivismus: Der Kognitivismus stellt die individuelle Verarbeitung von Informationen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in den Mittelpunkt. Er betrachtet das Lernen als aktiven Prozess. Das Individuum speichert demzufolge Informationen aus allen Lebensbereichen als Erkenntnisse (Kognitionen) ab. Diese Erkenntnisse werden auf unterschiedliche Weise verarbeitet. Sie können im Gedächtnis abgespeichert und bei Bedarf wieder hervorgeholt werden, und außerdem können unterschiedliche Erkenntnisse miteinander verknüpft werden, sodass daraus neue Erkenntnisse entstehen. Es geht dabei um das Finden von Problemlösungen. Wichtige Teilgebiete der kognitiven Lerntheorie sind das Lernen am Modell, also das Lernen durch Abschauen bei anderen und das Lernen durch Einsicht, das auf dem Erkennen und Verstehen eines Sachverhalts beruht. Indem  verschiedenes, abgespeichertes Wissen kombiniert wird.
Soziales Lernen ist ein Teilbereich des Kognitivismus und nicht, wie heute teilweise fälschlich behauptet wird, ein Teil des Behaviorismus. Soziales Lernen wird heute allerdings oft dem Behaviorismus ergänzend zugefügt. Weil der Behaviorismus zwar viele gute Erkenntnisse bereithält, jedoch das Lernen insgesamt nicht ausreichend erklären kann.
Aber die Lerntheorie des Kognitivismus besteht nicht nur aus sozialem Lernen, oder auch Beobachtungslernen. Dass man also etwas bei anderen beobachtet und daraufhin probiert, dieses Verhalten selbst zu zeigen. Übrigens, ganz wichtig für das Verständnis und auch die Kritik am Behaviorismus. Laut Behaviorismus kann es kein Konditionieren sein, wenn ein Lebewesen etwas nach dem Beobachten eines anderen Lebewesens nachmacht. Das Beobachten und nachmachen ist ein innerer, ein kognitiver Vorgang, der, selbst bei angenehmer Konsequenz, nicht konditionieren genannt wird.
Ebenso ist es bei einem weiteren Beispiel. Denken wir an den Wolf zurück, der über Versuch und Irrtum, über operante Konditionierung gelernt hat, nicht durch einen reißenden Fluss zu schwimmen. Und, dass man über einen Baumstamm laufen und balancieren kann.
Kommt dieser Wolf jetzt irgendwann wieder an einen reißenden Fluss. Und wenn jetzt zufällig über diesen Fluss ein umgefallener Baum liegt. Wenn er nun sein inneres Wissen nutzt und über den Baum balancierend den Fluss überwindet ohne hineinzuspringen. Wenn er vorher gelerntes Wissen kombiniert und anwendet. Dann ist das kein Konditionieren laut behavioristischer Lerntheorie. Das ist kognitives lernen. Hier wurde die mögliche Konsequenz des Verhaltens schon vorher im Kopf durchgespielt und vorhandenes Wissen kombiniert. Etwas, was laut Behaviorismus nicht möglich ist.
Der Konstruktivismus
Widmen wir uns noch kurz der Lerntheorie des Konstruktivismus: Beim Konstruktivismus spielen die individuelle Wahrnehmung und Interpretation eine übergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt steht der Lernende selbst, der aus seiner Wahrnehmung der Umwelt eine eigene Sichtweise konstruiert. Das Lernen hängt also stark von persönlichen Erfahrungen ab.
Die richtige Lerntheorie?
Um es gleich vorweg zu nehmen: Die richtige Lerntheorie gibt es nicht. Zwar gibt es immer noch Anhänger der einzelnen Lerntheorien, die ihre jeweilige Sichtweise als die einzig Wahre ansehen. Der Tenor ist heute allerdings, dass keine dieser Theorien als allein gültig oder als die beste bezeichnet werden kann, sondern alle eine Berechtigung haben. Es kommt auf die richtige Mischung unterschiedlicher Lösungsansätze an.
So ist die dem Behaviorismus entstammende Konditionierung sicher von Bedeutung, wenn es um das Lernverhalten von Hunden geht, aber sie ist eben auch nur ein Teil des großen Ganzen. Man kann ein Rückrufsignal noch so gut konditioniert und mit dem Hund trainiert haben, es besteht immer die Möglichkeit, dass der Hund selbstständig die Erfahrung macht, dass ein anderes Verhalten als das Zurückkommen seine Bedürfnisse eher befriedigt, zum Beispiel das Jagen. Gelernt hat er das durch Erkenntnis – denken wir zurück an den Kognitivismus.
Ein anderer Hund stellt vielleicht fest, dass er sich allein und unsicher fühlt, wenn er sich weit von seinem Besitzer entfernt hat. Er läuft freiwillig zurück, um die sichere Nähe seines Menschen zu suchen – weil er sich innerlich vorgestellt hat, dass es nicht angenehm wäre, allein zu sein. Er hat durch seine Fähigkeit mit der Situation umzugehen eine Lösungsstrategie (zurückkommen) entwickelt – wie es der Konstruktivismus beschreibt.
Wie man sieht, haben alle Lerntheorien ihre Berechtigung und sollten nicht verbissen als „richtig“ oder „falsch“ angesehen werden.
(c) fotolia - Igor Normann
Positive Verstärkung
Eine operante Konditionierung über positive Verstärkung (angenehme Konsequenz, die es wahrscheinlich macht, dass ein Verhalten wiederholt gezeigt wird) ist also gut, wichtig und richtig. Dieses Tool gehört in den „Werkzeugkoffer“ eines jeden professionellen Hundetrainers oder Hundepsychologen und hat auch bei der Ausbildung für verschiedenste Aufgaben, beim Erlernen von Tricks sowie beim Lernen bestimmter nützlicher Signale für den Alltag einen festen Platz.  Allerdings sollte man dem Hund auch genügend Raum lassen, kognitiv erlangtes und genutztes Wissen so zu kombinieren und anzuwenden, dass er selbst herausfindet, wie sich sein Leben insgesamt angenehm leben lässt. Das ist wichtig für das Selbstbewusstsein und das Wohlfühlen allgemein.
Anpassung durch kognitive Fähigkeiten
Neben der Konditionierung in der Hundeausbildung sollte man Hunden also genügend Raum geben, sich anzupassen. Das lernt er am besten im Alltag – ganz ohne komplizierte Anleitung. Anpassungsfähigkeit, als Folge kognitiver Fähigkeiten, ist eine der herausragendsten Eigenschaften des Haushundes – und des Menschen. Wohl ein Grund dafür, warum sich seit vielen tausenden von Jahren gerade diese beiden Spezies so gut aneinander anpassen können.
Strafe
Übrigens. Neben der positiven Verstärkung, also vereinfacht gesagt der Belohnung, ist auch die Strafe ein Teil der Konditionierung und des Behaviorismus. Um es hier nicht zu lang und zu kompliziert werden zu lassen ist Strafe im Zuge der operanten Konditionierung eine unangenehme Konsequenz. Die nasse und schmerzhafte Erfahrung unseres Wolfs beim Versuch den Fluss zu überqueren war streng genommen eine Strafe. Konditioniert, behavioristisch gesehen.
Unangenehme Erfahrungen gehören zum Leben - dosiert
Strafen und unangenehme Erfahrungen gehören also zum Leben. Allerdings, und das weiß man aus Forschungen der Humanpsychologie sehr genau, müssen die positiven Erfahrungen deutlich in der Mehrheit sein, weil dem Individuum andernfalls auch Verluste im Bereich Selbstvertrauen drohen, sowie Ängste und Unsicherheiten die das Leben bestimmen und nicht lebenswert machen.
Wie zum Leben insgesamt gehören unangenehme Konsequenzen, oder im Bereich der behavioristischen Konditionierung „Strafen“ genannt, auch im Zusammenleben Mensch / Hund und Hundeausbildung dazu. So ist es schon eine Strafe, wenn ich den Hund anleine, es ist unangenehm für ihn, eingeschränkt zu sein. Oder wenn ich dem Hund die Aufmerksamkeit entziehe, wenn er mal „überdreht“ – das alles ist im Bereich Versuch / Irrtum eine unangenehme Konsequenz und als Strafe zu bezeichnen. Und lässt sich im normalen Leben, soweit sie selten vorkommt, nicht vermeiden.
Strafen ist konditionieren
Das Wort Strafe im Zusammenhang mit dem Lernen und den Lerntheorien gehört übrigens zur behavioristischen Konditionierung. Das sollte auch allen bewusst sein, die Strafe als Kommunikation und nicht im Zusammenhang mit Konditionierung benutzen. Wenn man die Lerntheorien heranzieht, muss man es auch sinngemäß machen und nicht für die jeweilige Philosophie zurechtinterpretieren.
Strafen oder Einschüchtern?
Also, genauso wie angenehme Konsequenzen zum Leben gehören, sind auch unangenehme Konsequenzen Teil des Lebens und des Lernens und können wohl dosiert auch mal in der Hundeausbildung genutzt werden. Stichwort Aufmerksamkeit entziehen etc. Wohl dosiert endet aber da, wo es mit Schmerz zu tun hat, bzw. es sich zu ernsthafter Einschüchterung ausweitet. Wie vorher erwähnt, weiß man aus der Humanpsychologie sehr genau, dass beim Lernen, egal nach welcher Theorie, unangenehme Konsequenzen selten und in geringem Ausmaß vorkommen dürfen. Weil es sonst zum Verlust von Selbstsicherheit führt, was Ängste, Unsicherheiten, Frustrationen und dauerhaft unangenehme Gefühle mit sich bringt. Einen Verlust von Lebensqualität.
Wenn man ein Lebewesen erzieht oder ausbildet und dabei vornehmlich Strafe oder unangenehme Konsequenzen nutzt, führt das zu Verängstigungen und wird dann Einschüchterung genannt.
Zuckerbrot und Peitsche?
In der Hundeerziehung wird heute gern das Prinzip „von Zuckerbrot und Peitsche“ postuliert, oft angelehnt an den auch in der Humanpädagogik umstrittenen Ansatz der „Autoritativen Erziehung“. Doch in der Humanpädagogik wird Strafe und Kontrolle hier sehr begrenzt eingesetzt – um eben Einschüchterung und Verunsicherung zu vermeiden.
In der Hundeerziehung scheint es mir allerdings so zu sein, dass die Erkenntnisse vom behavioristischen Prinzip der Strafen, die einen Teil des Lebens ausmachen, als Ausrede missbraucht werden. Als Ausrede, Hunde einzuschüchtern und dadurch gefügig zu machen.
Kritik, bzw. kritisches Nachfragen bzgl. der aktuell bekannten Lerntheorien sind gut und wichtig um das Verständnis für Lernen und Verhalten an sich zu erweitern und zu hinterfragen. Daraus allerdings Ausreden und Rechtfertigungen für die Einschüchterung von Lebewesen abzuleiten, ist nun auch wieder kritisierbar…



Literaturhinweise:
Bower G. H. und E. R Hilgard, Stuttgart - Theorien des Lernens
Edelmann, W., Weinheim - Lernpsychologie
Mitchian, Haymo - Vom Behaviorismus zum Kognitivismus
Sämmer, Günther - Die Paradigmen der Psychologie
Reuter, Stephanie – Behaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus. Lehr- und Lerntheorien

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