Gina 



Gina öffnete müde ihre Augen. Irgendwie steckte ihr die Ruhe der Nacht noch in den Gliedern, aber wie es für Hunde überhaupt und ihre Rasse im Besonderen üblich ist, hielt sie sich nicht lange mit dem Wachwerden auf, sondern war direkt für die Abenteuer des Tages bereit. Wie immer ließ Frauchen sie nach dem Aufstehen direkt in den Garten, wo sie sich lösen konnte und danach im Haus ihr Frühstück genießen. Schon während des Frühstücks kam in ihr die Vorfreude auf den üblichen, anschließenden Spaziergang auf. Raus, bewegen, Energie abbauen, die Welt sehen und erkunden, über fremde Markierungen pinkeln und der Nachbarkatze wieder mal erklären, wem dieses Revier gehört. Nämlich ihr und ihrem Frauchen. Diesem supertollen Frauchen, das immer für sie da war. 

 

Wenn sie vor lauten Geräuschen Angst hatte, wenn ihr irgendwelche Menschen bedrohlich vorkamen. Frauchen war immer dieser Fels in der Brandung, auf den sie sich verlassen konnte. Hinter der sie sich in diesen Angstmomenten verstecken konnte, die immer ein beruhigendes Wort oder eine streichelnde Hand für sie hatte. Sie und Frauchen, sie waren in Ginas Augen einfach ein unschlagbares Team.

 

Die Vorfreude auf den spannenden Morgenspaziergang stieg. Klar, es war etwas ärgerlich, dass Frauchen ihr immer beim Spaziergang dieses Geschirr anzog und sie dann an der kurzen Leine hielt, sodass sie kaum vorankam und auch kaum schnell genug die wichtigen Markierungen erreichen konnte, die in der Nacht überall am Wegesrand neu gesetzt wurden. Aber egal, sie musste nur etwas mehr an dieser wirklich kurzen Leine ziehen, wobei sie auch gut die Energien einsetzen konnte, die sie so am Morgen hatte, um die Markierungen zu erreichen, um in die Richtung der Nachbarskatze zu springen oder andere unbekannte, aber in ihren Augen wichtige Reize zu untersuchen. Manchmal rief Frauchen zwar etwas Komisches, wenn Gina gezwungen war, etwas mehr an der Leine zu ziehen, um die Reize oder Gerüche zu erreichen oder einfach das für ihre Rasse typische Energielevel etwas abzubauen. Manchmal blieb Frauchen auch stehen oder versuchte, sie in eine andere Richtung zu ziehen. Aber letztlich funktionierte es für Gina immer, den erkannten Geruch oder Reiz zu erreichen oder zumindest zu verfolgen, was auch schon ein gutes Gefühl brachte.

 

Klar, manchmal fragte sie sich irgendwie, warum sie denn an der kurzen Leine in der Nähe von Frauchen gehalten wurde. Eine etwas längere Leine, sodass sie leicht die Markierungen rechts und links vom Wegesrand erreichen konnte, hätte ja schon gereicht, damit sie nicht so oft und stark ziehen müsste. Aber gut, wie immer nahm sie Frauchens Entscheidung in Sachen Leine, Geschirr etc. einfach so hin. Frauchen war ja das tollste Lebewesen, das sie kannte. Sie vertraute ihr einfach. Es hatte alles seine Richtigkeit, was Frauchen so machte.

 

Der Napf leerte sich inzwischen zusehends. Noch einmal mit der Schnauze richtig hineinlangen, einmal schlucken, das war es. Jetzt schnell zur Tür und mit Frauchen zum geliebten Gassigang. Mit all den Abenteuern, die auf die beiden warten würden. Gina war so voll mit Hormonen der Vorfreude, dass sie aufgeregt vor der Tür stand und sprichwörtlich „mit den Hufen scharrte“. Dann kam Frauchen. Seltsamerweise legte sie ihr an dem Tag kein Geschirr an, sondern ein Halsband. Gina wunderte sich zwar, nahm es aber so hin, obwohl sie dieses Halsband gar nicht mochte. Wenn sie das umgelegt hatte und ziehen wollte, war das sehr unangenehm. Ihr wurde dann immer schwindelig, so, als ob ihr jemand die Luft zum Atmen nehmen würde. Aber komischerweise hörte sie deshalb nicht mit dem Ziehen auf, sondern so etwas wie ein innerer Drang sagte ihr, dass sie weiterziehen müsse. Jetzt nicht mehr, um die Geruchsmarke zu erreichen, sondern eher, um irgendwie von diesem unangenehmen, ja bedrohlichen Gefühl durch das Halsband wegzukommen. Sie wusste selbst nicht, warum sie das tat, was sie in diesen Situationen tat. Da waren die Vorfreudehormone, die Außenreize, die es zu erreichen gab, und mit dem Halsband noch diese Angst, zu ersticken. Alles zusammen veranlasste sie zu einem noch stärkeren Ziehen als sonst schon mit Geschirr.

 

Naja, Hauptsache raus, das Halsband überstehe ich auch noch. So, oder so ähnlich könnte man sicher übersetzen bzw. in menschliche Worte fassen, was sie kurz vor dem Gassigang empfand.

Und nun, nachdem Halsband und die kurze Leine angezogen waren, ging es los. Raus aus der Tür, schnell um die Ecke. Auf den üblichen Weg, den sie immer morgens gehen. Als sie um die Ecke gingen, stand da aber ein Mann, bei dem Frauchen mit ihr anhielt. Gina mochte Menschen und freute sich immer, mit ihnen in Interaktion zu treten. Aber warum gerade jetzt? Wo sie so von Hormonen und Energie geflutet war? Gina wollte an dem Mann vorbei und rein ins tägliche Abenteuer. Doch Frauchen blieb stehen und hielt sie ganz kurz an der Leine.

 

Gina musste warten, als Frauchen sich mit dem Mann unterhielt. Das gefiel ihr verständlicherweise nicht. So voller Vorfreude und Tatendrang hatte sie sich so auf den Gassigang gefreut. Aber wieder einmal akzeptierte sie, was Frauchen machte. Sie setzte sich zu Frauchen und dem fremden Mann, während diese miteinander sprachen. Zwar schaute sie Frauchen währenddessen mit ihren treuen, dunklen Augen an, wartete aber geduldig, bis es endlich losgehen konnte. Sie kannte das ja schon. Frauchen blieb nicht selten bei Menschen stehen und redete mit diesen dann immer etwas für Gina Unverständliches. Gina hatte dabei ihre Impulse und ihren inneren Drang nach Bewegung unter Kontrolle. Nur wenn es dann endlich weiterging, wurde ihr Verlangen danach, zu den interessanten Dingen auf ihrem Weg zu ziehen, immer größer.

 

Nur war heute alles anders. Frauchen beendete nicht einfach das Gespräch mit dem Fremden. Sie gab ihm Ginas Leine. Das verwunderte Gina sehr, noch mehr allerdings die Tatsache, dass Frauchen einige Meter von Gina und dem Fremden wegging. Gina schaute ihr verwundert hinterher und wollte ihr folgen. Der Fremde hielt die Leine, die jetzt auf Zug war, weil Gina leicht in Richtung Frauchen zog. Dann sprach er Gina freundlich an. Er lockte sie, in seine Richtung zu kommen. Gina warf noch einen fragenden Blick zu Frauchen, entschloss sich dann aber, zum Fremden zu gehen. Schließlich waren Menschen ja immer nett zu ihr gewesen und sicher wollte der nette Fremde ihr ein paar Leckerchen geben. Sie drehte sich also um und trottete langsam zum Fremden. Der drehte sich aber dann um und ging los, Gina an der Leine. Die verwunderte und etwas verunsicherte Gina ging mit. Sie folgte ihm vorsichtig, ging nicht zu schnell, weil sie nicht wusste, was das Ganze sollte. Der Mann ging sehr langsam, und trotz Vorsicht und auch von ihrer Seite langsamen Tempos, schloss sie zum Mann auf, hatte ungefähr sein Bein erreicht, ohne es zu überholen. Plötzlich drehte sich der Mann um und stellte sich vor Gina. Diese konnte nicht schnell genug reagieren und knallte mit ihrem Kopf direkt vor das Knie des Mannes.

 

Verdutzt blieb sie stehen. Es war sicher nur ein Versehen des Mannes. Menschen können ja manchmal so ungeschickt sein… Der Mann sagte nichts weiter, teilte ihr mit einem freundlichen Streicheln o. Ä. auch nicht mit, dass es unbeabsichtigt war und er „entschuldigte“ sich nicht. Er ging einfach weiter in die vorher eingeschlagene Richtung. Wieder recht langsam. Und er forderte Gina auf, ihm zu folgen. Was sie auch tat. Sicher würde der Mann ihr doch irgendwann ein Leckerchen geben und nett zu ihr sein.

 

Doch was passierte? Als sie zu ihm aufschloss, passierte wieder das Gleiche. Sie war gerade beim Bein des Mannes angekommen, ohne ihn zu überholen. Schon drehte er sich wieder blitzschnell um, verstellte ihr den Weg und starrte sie dabei bedrohlich an. Langsam kam in Gina ein Gefühl des Unwohlseins auf. Und es ging weiter so. Immer wieder forderte der Mann sie auf, mit ihm in eine Richtung zu gehen, und immer wieder stellte er sich abrupt in ihren Weg, wenn sie nur zu ihm aufgeschlossen hatte. Gina war nun völlig verunsichert und wollte dem Mann nicht mehr folgen, weil er für sie nun eine Bedrohung darstellte, der sie lieber aus dem Weg gehen wollte. Sie folgte also nicht mehr der Aufforderung des Mannes, ihm zu folgen, sondern blieb dort stehen, wo sie war, und versuchte dann sogar vorsichtig, sich in eine andere Richtung zu bewegen. Plötzlich spürte sie dabei aber einen stechenden Schmerz im Halsbereich, der sich bis in den Rücken ausbreitete. Der Mann hatte sehr kräftig an der Leine geruckt. Sie wusste wieder nicht, warum. Sie wollte sich doch nur von ihm wegbewegen, weil er inzwischen sehr bedrohlich auf sie wirkte. Aber egal was sie machte – ihm folgen, wenn er in eine Richtung ging, oder von ihm weggehen. Auf alles folgte etwas, das unangenehm bis schmerzhaft war. Sie war insgesamt nun stark verunsichert und folgte dem Mann jetzt und blieb immer etwas hinter ihm, um zu verhindern, dass er sich wieder ruckartig umdrehte und eventuell sein Knie an ihrem Kopf landete. Sie war jetzt sehr angespannt und erschrak immer sehr stark, wenn der Mann irgendeine Bewegung machte oder stehen blieb. Sie fürchtete immer eine Reaktion. Der Mann schien sich darüber zu freuen, dass sie so verunsichert hinter ihm herlief.

 

Gina verstand das alles nicht. Und sie wunderte sich auch, dass Frauchen das alles mit ansah. Ihr Frauchen, dieses wundervolle Frauchen, das sie so liebt und die immer für sie da ist. Oder ist sie das gar nicht, kann man Frauchen am Ende gar nicht vertrauen? Ginas Verunsicherung schien sich immer mehr auszubreiten...

 

Als der Mann endlich weg war, verbrachte Gina einen merkwürdigen Tag. Zwar ging Frauchen noch wie gewohnt mit ihr Gassi, und der Tag verlief eigentlich wie immer. Gina war aber sehr zurückhaltend und ruhig, auch die Gassigänge an sich und die lebhafte Erkundung der Umwelt waren ihr an dem Tag nicht mehr wichtig. Sie schlich eher neben Frauchen her, ohne große Freude. Sie konnte auch in den Ruhephasen des Tages nicht wie sonst immer entspannen und viel schlafen. Sie lag bis tief in die Nacht wach und konnte ihr aufgewühltes Inneres irgendwie nicht richtig beruhigen, bis sie dann vor Erschöpfung einschlief.

 

Gina öffnete müde ihre Augen. Irgendwie steckte ihr der kurze Schlaf noch in den Gliedern, und wie es für Hunde überhaupt und ihre Rasse im Besonderen überhaupt nicht üblich ist, hielt sie sich sehr lange mit dem Wachwerden auf. Sie wollte nicht in den Tag starten. In ihr stieg ein schlechtes Gefühl auf. Ein Gefühl, dass beim Gassigang wieder dieser Mann wartet...

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