Von Hundeerziehung, Moral und einer uralten Freundschaft




Alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Hundeverhalten, alle Interpretationen dieser Erkenntnisse und auch die Umsetzung dieser unterschiedlichen Interpretationen im Umgang mit dem Hund können immer nur einen Teil der Mensch-Hund-Beziehung ausmachen. Einen bedeutenden Teil, aber sicher nicht den wichtigsten, denn viel wichtiger als alle Erkenntnisse über Hundeverhalten ist die Frage, warum wir Menschen uns Hunden gegenüber so verhalten, wie wir es tun. Die Antwort auf diese Frage ist vielschichtig. Die eigene Erziehung, das, was die Eltern vorgelebt haben. Die Erfahrung, die man mit Hunden gemacht hat und auch die religiöse und/oder sonst weltanschauliche Überzeugung spielen hier eine Rolle. Weiter ist es eine Frage der Moral, wie wir uns anderen gegenüber verhalten. Doch was ist Moral eigentlich? 

Moral als ordnender Faktor?

Moral beschreibt die faktischen Handlungsmuster, Regeln und/oder Prinzipien bestimmter Individuen, Gruppen oder Kulturen, sofern diese wiederkehren und innerhalb der Gruppe oder Kultur anerkannt und erwartet werden. Das heißt also, dass der Begriff Moral in unterschiedlichen Kulturen, Religionsgemeinschaften oder politischen Gesellschaften, aber auch in kleineren Gruppen wie Vereinen oder Verbänden, ganz unterschiedlich interpretiert und angewendet wird. Als Beispiel kann man Religionen nennen, die unter anderem die Verhütung aus moralischen Gründen verbieten, während der weltliche Staat, in dem diese Kirchengemeinschaften aktiv sind, Verhütung als völlig legitim und moralisch einwandfrei ansieht. Moral ist also nichts starr fixiertes, sie dient in den komplexen menschlichen Gesellschaften eigentlich eher als ordnender Faktor und so kann es sein, dass sich ein Mensch in seinem sozialen Umfeld mit unterschiedlichsten moralischen Grundsätzen konfrontiert sieht. Was dazu führt, dass man die gängige Moral auch kritisch hinterfragt, was mit dem Begriff der Ethik umschrieben wird. Moral und Ethik werden so zu wichtigen Faktoren eines geordneten und konfliktfreien Miteinanders, doch das, was sich Menschen unter diesen Begriffen vorstellen, kann erheblich differieren und ändert sich von Familie zu Familie, von Verein zu Verein, von Religion zu Religion, von Gesellschaft zu Gesellschaft und auch in der Verzahnung und dem Austausch dieser sozialen Gruppen.

Anspruch und Wirklichkeit der Moral

So behaupten zum Beispiel viele Deutsche, dass der Umgang mit Tieren in ihrer Gesellschaft sehr hohen moralischen Ansprüchen, die das Wohl der Tiere betreffen, genügen. Wenn ich als Mitglied dieser Gesellschaft allerdings meine individuellen moralischen Ansprüche heranziehe und die Moral der Gesellschaft, hier bezogen auf Tiere, ethisch betrachte, kann ich nur noch wenig von hohen moralischen Ansprüchen erkennen. Ich möchte jetzt gar nicht auf Massentierhaltung, Tiertransporte oder grausame und wissenschaftlich völlig unbegründete Formen der Tierversuche und der Jagd (z. B. Baujagd mit Hunden, erschlagen von Fuchswelpen vor den Augen der Mutter etc.) eingehen. Mein Thema hier sind die Hunde und deren Erziehung und wenn ich die moralischen Grundsätze näher betrachte, die bei der Hundeerziehung zum Tragen kommen, läuft mir ein kalter Schauer den Rücken herunter. Tatsächlich sehe ich die Grundlage vieler Probleme in der uralten Sozialgemeinschaft zwischen Mensch und Hund beim Menschen und seiner Einstellung gegenüber anderen Lebewesen, die recht egozentrisch sein kann und schnell vergisst, dass wir es mit denkenden und fühlenden Mitgeschöpfen zu tun haben, die ein Recht darauf haben, in ihrer Andersartigkeit respektiert und mit ihren Bedürfnissen ernst genommen zu werden. 

Wessen Bedürfnisse werden erfüllt?

Wenn Sie mir nun gedanklich wiedersprechen und anführen, dass die meisten Halter doch vieles für ihre Hunde tun, mit ihnen zum Sport fahren, das beste Futter kaufen, sich um ihre Gesundheit bemühen usw., dann würde ich entgegnen, dass es dabei häufig aber gar nicht darum geht, wirklich die Bedürfnisse des Tieres zu erfüllen, sondern eher, die eigenen. Es fängt schon bei dem Wunsch an, einen Hund zu halten: ICH möchte einen Hund und ICH möchte, dass der Hund die und die Eigenschaft hat und so und so aussieht. Dann möchte ICH, dass der Hund dieses oder jenes lernt, ICH möchte, dass der Hund so oder so erzogen wird usw. und um MICH gut zu fühlen, kaufe ich dem Hund teures Futter, schöne Accessoires und gehe mit ihm zum Hundesport, weil MIR das Spaß macht und damit ICH kein schlechtes Gewissen haben muss, wenn er zum Beispiel stundenlang alleine bleiben und/ oder ohne Artgenossen allein leben muss usw.

Das große ICH 

Sie sehen also, hier werden viele Bedürfnisse befriedigt – unter ganz vielen ICH-Bedürfnissen des Menschen auch die Grundbedürfnisse des Hundes nach Nahrung und Bewegung. Aber obwohl der Mensch die Grundbedürfnisse des Hundes befriedigt, befriedigt er durch den Hund eine ganze Reihe von Luxusbedürfnissen bezogen auf sich selbst – wovon eine ganze Industrie profitiert, die täglich neue Produkte und Methoden rund um den Hund auf den Markt wirft. Zusätzlich wird das Bedürfnis des Menschen befriedigt, neuen Trends hinterherzulaufen, um sich dadurch eine vermeintliche Individualität zu erschaffen, gleichzeitig aber in einer Masse mitzuschwimmen und sozial anerkannt zu sein. Diese Bedürfnisse sind dann oft viel wichtiger, als die des Hundes! Oder glauben Sie wirklich, es gäbe für den Hund nichts Schöneres, als auf Ausstellungen und sportliche Wettbewerbe geschleppt zu werden, für die `zig Mal pro Woche trainiert werden und endlose Kilometer gefahren werden muss? Glauben Sie, es mache den Hund wirklich glücklich, wenn er mit Herrchen oder Frauchen seine Runden dreht und sich dabei mit Artgenossen auseinander setzen muss, denen er lieber aus dem Weg gehen würde, was aber nicht geht, weil dieser Rüde eben Frauchen`s bester Freundin gehört, mit der sie spazieren gehen will? Und will der Hund wirklich immer spielen und kuscheln, wenn seinem Menschen danach ist? Diese Liste ließe sich ins Unendliche fortsetzen und dennoch möchte ich mit diesen Zeilen nicht alles schlecht machen, was die Hundeszene oder Motivation zur Hundehaltung hergibt, denn gute Futtermittel und eine dem Hund entsprechende Bewegung und Auslastung sind zu begrüßen. Aber das Ganze hat bei uns Ausmaße angenommen, die vielleicht dem Menschen Freude bereiten, den Hund aber leider oft nur als Mittel zum Zweck dastehen lassen, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Dazu gehört leider auch, dass er funktionieren muss wie ein Uhrwerk.

ICH will, Hund MUSS, Hund DARF NICHT

Sie glauben, dass sei nun aber wirklich zu hart formuliert? Dann hören Sie doch einfach mal hin, wenn sich Menschen über Hundeerziehung unterhalten. „Der Hund muss…“; „Der Hund darf nicht…“; „Der Hund kann nicht einfach…“; „Der Hund soll nicht…“ – das ist die Terminologie, die in der Hundeerziehung vorherrscht. Während der Mensch immer das ICH in den Vordergrund stellt, sind im Zusammenhang mit dem Hund die Wörter MUSS und NICHT dominant. Natürlich gibt es auch Hundehalter und Trainer, die sich sehr viele Gedanken über die Bedürfnisse der ihnen anvertrauten Tiere machen und diese auch so es möglich ist erfüllen, aber die Masse ist das nicht und bei vielen Haltern ist es tatsächlich so, dass die Bedürfnisse der Hunde eine eher untergeordnete Rolle spielen. Manchmal aus Unwissenheit und manchmal auch, „weil das eben so ist“ wie mir kürzlich ein Kunde sagte. Er war tatsächlich der Meinung, dass Tiere auf dieser Welt sind, um uns entweder als Nahrungsquelle oder als Quelle der Freude zu dienen. Bei so viel Egozentrik verschlug es mir glatt die Sprache....

Wir pressen Tiere in unsere Muster, sie haben unsere Vorstellung zu erfüllen und wir entscheiden, was ihnen Spaß machen soll. Ich denke, für die Zukunft der Mensch-Hund-Beziehung wäre es wichtig, dass wir einfach mal die Hunde fragen, was ihnen Spaß macht und welche Bedürfnisse sie haben.

Bellen für den Wachhund verboten

Zusätzlich sehe ich es als großes Problem an, dass wir Hunden nicht nur etwas verweigern, sondern zum Teil normale Verhaltensweisen und Eigenschaften gezielt durch Selektion und Zucht verstärkt haben, weil uns Menschen diese nützlich waren oder sind. Wir haben Hunde als Wächter, Jagdgehilfen, Viehtreiber, Ungeziefervertilger oder Lastenträger geschätzt und eingesetzt. Heutzutage werden  aber die meisten von ihnen als Familien- und Gesellschaftshunde gehalten und wenn die Tiere nun das tun, wofür wir sie gezüchtet haben, wenn sie wachen, bellen, jagen, zusammentreiben, gewöhnen wir ihnen diese Verhaltensweisen unter Anwendung von Schreck, Schmerz und Verunsicherung ab: Wir haben Wächter gezüchtet und bestrafen diese heute, wenn sie bellen. Wir haben Jagdgehilfen gezüchtet und gewöhnen ihnen heute mit Reizstromgeräten das Jagen ab. Wir haben Hunde als „Zugtiere“ gezüchtet und quälen sie heute mit Stachelhalsbändern, wenn sie an der Leine ziehen. Wo bleibt die Fairness?!

Lieber Himmelhund

Der Liedermacher Reinhard Mey hat diesen Aspekt der Hundehaltung in seinem Lied „Gebet eines Hundes“ beschrieben, der das Verhältnis mancher Menschen zu ihrem Hund nicht treffender beschreiben könnte. Hier ein zitierter Auszug: 

„Lieber Himmelhund, ich würd’ mich zu gern mal richtig austoben.
Auf ’nem richt’gen wilden Acker und nicht immer nur von oben.
Vom Balkon im 10. Stock auf den versifften Spielplatz seh’n
Und am Abend nur für drei Minuten mal kurz runtergeh’n.
An den ersten armen Baum, der mit dem Hundekottod ringt,
Weil hier jeder aus dem Block schnell seinen Hund zur Notdurft zwingt.
Einmal nur nach Herzenslust ´rumschnuppern in den Mäusewinkeln
Und nicht an der Leine weggezerrt werden mitten im Pinkeln.
Lieber Hund im Himmel: Etwas Muße und ein eigner Baum. Das wär’ mein Traum!
Lieber Himmelhund, ich möcht’ gern richtig stink’gen Schweinkram fressen
und nicht das Designermenu aus der Fernsehwerbung essen.
Ich möchte nicht, dass mich parfümierte Hände streicheln, nein, meine Nase ist zu fein für Gucci und für Calvin Klein.
Weil der Mensch es für unglaublich originell und witzig hält,
Wenn er uns vermenschlicht und sich zugleich hoch über uns stellt:
„Ihr da unten – ich hier oben. Ich werf’ und ihr holt den Stock!“
Menschen brauchen Katzen, Vögel, immer einen Underdog.
Menschen woll’n immer Gefang’ne, Menschen sind immer die Schließer,
die Verhätsch’ler, die Verhöhner, die Streichler, die Krauler und die Blutvergießer.“

Natürlich können wir den Hunden nicht alle Verhaltensweisen erlauben, die sie genetisch fixiert abrufen könnten. Aber zumindest sollten wir uns vor der Anschaffung eines Hundes überlegen, ob wir einen Hofwächter, Jagdhund, Hüte- und Treibhund, Schlittenhund brauchen können – oder ob wir zumindest willens und in der Lage sind, dieses zu erwartende Verhalten gewaltfrei in händelbare Bahnen zu lenken. 

Menschen, die an Ihren Hund denken

Und dennoch, bei all dem, was im Argen liegt, gibt es auch Menschen, die Hunde wirklich als Persönlichkeiten sehen, die mit ähnlichen Gefühlen ausgestattet sind wie wir, die Bedürfnisse haben und von Instinkten gesteuert sind, die es zu verstehen gilt, die nicht trotz, sondern wegen ihrer Andersartigkeit so besonders und so liebenswert sind und unser Leben unendlich bereichern. Menschen, die wirklich versuchen, ihrem Hund ein so artgerechtes Leben wie möglich zu bieten und die ihr Bestes tun, damit er sich wohl und sicher fühlt.


Die uralte Freundschaft

Es muss doch möglich sein, die uralte, problemlose Freundschaft zwischen Menschen und Hunden so fortzuführen, wie sie seit Jahrtausenden besteht. Wenn sich auch Umwelt und Gesellschaft verändert haben und sich Mensch und Hund anpassen müssen – müssen wir nicht so weit gehen, dass wir selbst Opfer der Modetrends und des Philosophiechaos werden, die uns umgeben. Für viele Hundehalter ist das Verhalten ihres Tieres noch immer – oder mehr denn je – ein Buch mit weit mehr als sieben Siegeln. Wenn wir jedoch unser Herz öffnen und unserem Hund auf einer soliden Basis aus Empathie, Fachwissen, Wohlwollen, Fairness und Zuneigung begegnen, werden wir in der Lage sein, einen Raum zu erschaffen, in dem sich Mensch und Hund als Freunde begegnen können und der Wohlbefinden für beide ermöglicht.

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