Hör auf mit Rangordnung – fang an zu verstehen

Seit Jahrzehnten hält sich im Hundetraining ein Mythos hartnäckig: Hunde würden versuchen, 
die Führung zu übernehmendominant zu werden oder sogar den Menschen zu kontrollieren. Dieses Bild stammt aus einer Zeit, in der man das Verhalten von Hunden fast ausschließlich durch den Blick auf Wölfe erklären wollte – genauer gesagt: auf gefangene, nicht miteinander verwandte Wölfe, die unter extrem unnatürlichen Bedingungen lebten.

Heute wissen wir: Dieses Dominanz- und Rangordnungskonzept ist wissenschaftlich widerlegt.

1. Hunde wollen keine Führungsposition gegenüber Menschen einnehmen

Hunde sind keine strategisch denkenden Machtpolitiker.
Sie planen nicht, ein Rudel zu übernehmen, Regeln aufzustellen oder Menschen zu dominieren.

Was bestimmt das Verhalten von Hunden stattdessen?

  • Selbstschutz: Hunde vermeiden Bedrohungen, Unsicherheit und Konflikte.
  • Überleben und Komfort: Sie sichern Zugang zu Ressourcen (Nahrung, Sicherheit, Zugehörigkeit), aber nicht über “Macht”, sondern über Lernprozesse.
  • Emotionen: Angst, Stress, Unsicherheit, Erwartung – all das beeinflusst Verhalten und nicht “Dominanz”.

Ein Hund, der scheinbar “dominant” auftritt, zeigt in Wirklichkeit:

  • Unsicherheit
  • gelernten Erfolg (“Ich belle, und das schafft Distanz”)
  • Überforderung
  • Stress
  • oder ein Missverständnis zwischen Mensch und Hund
Keiner dieser Faktoren ist ein Machtanspruch.


2. Domestikation: Die enorme Nähe zum Menschen – ohne Hierarchien

Hunde lebten über viele Jahrtausende an der Seite des Menschen. Diese Domestikation hat sie darauf geprägt:

  • mit uns zu kooperieren
  • unsere Gesten, Emotionen und Absichten zu lesen
  • sich sozial an uns anzupassen

Doch diese enge Bindung bedeutet nicht, dass Hunde uns in ein Rudelschema einordnen.
Hunde sehen uns nicht als Artgenossen.
Sie leben mit Menschen in sozialen Beziehungen, nicht in Rangordnungen.

Zusammenleben funktioniert durch:

  • Lernen
  • gemeinsame Erfahrungen
  • klare Kommunikation
  • Bedürfnisorientierung
  • Erwartungen und Routinen

Nicht durch “ich bin der Chef”.

3. Warum Rangordnungsdenken wissenschaftlich falsch ist

Der große Fehler der alten Dominanztheorie entstand dadurch, dass man Wölfe in Gefangenschaft beobachtete. Diese völlig unnatürlichen Gruppen bildeten auf engem Raum, ohne Möglichkeit die Gruppe zu verlassen, notgedrungen starre Hierarchien – als Stressreaktion.

Neuere Forschung an freienverwandtschaftsbasierten Wolfsgruppen zeigte:

  • natürliche Wolfsrudel sind Familien
  • Eltern führen ihre Jungtiere fürsorglich, nicht autoritär
  • starre Rangkämpfe kommen kaum vor
  • Kooperation ist wichtiger als Konkurrenz

Auf Hunde übertragen bedeutet das:
- Keine Grundlage für ein Rangordnungstraining.
- Kein Bedürfnis, die Führung zu übernehmen.
- Kein Machtstreben.

4. Die tatsächlichen Mechanismen hinter Hundeverhalten: Lernen, Anpassung, Beobachtung

Statt “Dominanz” bestimmen ganz andere Faktoren, wie ein Hund handelt:

Hunde wiederholen Verhalten, das sich lohnt.
Sie lassen Verhalten, das sich nicht lohnt, bleiben.

Emotionen steuern Verhalten:
Wer Angst hat, verteidigt schneller.
Wer gute Erfahrungen macht, wird entspannter.

Hunde beobachten Menschen intensiv:

  • Welche Reaktionen lohnen sich?
  • Welche führen zu Sicherheit?
  • Welche lösen Konflikte?

Sie passen sich an uns an – nicht, um zu führen, sondern um erfolgreich und konfliktarm im sozialen System Mensch-Hund zu leben.

Bindung reguliert Verhalten viel mehr als Rangordnung.

5. Schlussfolgerung: Rangordnungsdenken ist veraltet und falsch

Das Bild vom Hund, der “Chef werden will”, stammt aus einer wissenschaftlich überholten Epoche.

Heute zeigt die Forschung deutlich:

  • Hunde streben keine Führungsposition an
  • Sie leben nicht nach starren Hierarchien
  • Sie orientieren sich an Lernen, Sicherheit und emotionalen Erfahrungen
  • Das Zusammenleben basiert auf Bindung, nicht Dominanz

Rangordnungsdenken ist ein Mythos – und einer, der Hunde oft unnötig belastet oder bestraft.
Ein modernes Verständnis von Hundeverhalten setzt auf:

  • Kommunikation
  • Empathie
  • Lernen
  • Anpassung
  • Sicherheit
  • Beziehung

So entsteht echtes Vertrauen – und das ist die Grundlage jeder funktionierenden Mensch-Hund-Beziehung.

Quellen & Studien (Auswahl)

Moderne Verhaltensbiologie & Wolfsforschung

  • Mech, L.D. (1999). Alpha status, dominance, and division of labor in wolf packs. Canadian Journal of Zoology.
  • Mech, L.D. & Peterson, R.O. (2003). Wolf social ecology.
  • Packard, J.M. (2003). Wolf behavior: reproductive, social, and intelligent.

Soziales Lernen & Domestikation beim Hund

  • Range, F., Virányi, Z. (2015). Imitation and innovation: The social dog.
  • Hare, B., Tomasello, M. (2005). Human-like social skills in dogs? Trends in Cognitive Sciences.
  • Kaminski, J. et al. (2004). Dogs understand human pointing. Science.

Bindung & Emotion

  • Topál, J., Miklósi, Á., Csányi, V. (1998). Attachment behavior in dogs.
  • Rehn, T., Keeling, L. (2016). The effect of human interaction on dog behavior.

Problematik des Dominanzkonzepts

  • Bradshaw, J.W.S., Blackwell, E. (2011). Dominance in domestic dogs—useful construct or bad habit?
  • van Kerkhove, W. (2004). A fresh look at the wolf-pack theory of dominance.

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