Ignorieren ja oder nein? Die neuste Verwirrung der ganz schlauen „Hundeexperten“…

Wenn man sich mit der so genannten Hundeszene in den mitteleuropäischen Ländern beschäftigt, sei es aus Interesse als Hundehalter oder beruflich, weil man ein Teil dieser Szene ist, muss man eines feststellen: Die Verwirrung rund um die Hundeerziehung wird fast täglich größer. Ich möchte darauf jetzt gar nicht näher eingehen, weil dafür ein einzelner BLOG-Artikel nicht ausreichen würde. Aber an dieser Stelle möchte ich einmal auf etwas hinweisen, was mir im Moment ganz besonders auf die Nerven geht, und was meiner Ansicht nach wirklich einmal im Klartext angesprochen werden muss. Nämlich das neuste Dogma der „Schlauschwätz-Hundetrainer“, dass man Hunde nicht ignorieren dürfe, bzw. Hundeverhalten zu Erziehungszwecken nicht ignorieren dürfe.
„Wie bitte?“ Werden sich manche jetzt fragen. „Wir haben doch gerade erst gelernt umzudenken, sollen unseren Hund nicht >zutexten< und häufiger nicht direkt auf jede Handlung reagieren. Was ist denn jetzt richtig?“
Ich versuche es hier einmal zu erläutern, und ich versuche auch zu erläutern, wieso ich mich so über die Trainer aufrege, die pauschal das Ignorieren verteufeln und als schlecht ansehen. Warum? Nicht einmal, weil sie grundsätzlich falsche Gedanken haben. Nein, das Schlimmste an diesen pauschalen Aussagen ist eben das Pauschale und die dogmatische Herangehensweise an das Thema. Weil das nämlich als Marketinginstrument, als Alleinstellungsmerkmal letztlich mehr dem geschäftlichen Erfolg der Thesenersteller dient und dienen soll, als tatsächliche Hilfe für Hunde und Ihre Menschen ist.
Was bedeutet „ignorieren“?
Doch lassen Sie mich zunächst einmal erläutern, was ignorieren in der Hundeerziehung überhaupt bedeutet. Wenn ein Hund eine Handlung ausführt, die dem Sozialpartner Mensch unangenehm ist, oder gefährlich, oder auch aus irgendeinem anderen (allerdings vernünftigen) Grund unerwünscht ist, kann man diese Handlung durchaus ignorieren. Meist möchte ein Hund ja, dass auf seine Aktion (seine Handlung) eine Reaktion erfolgt. Ganz simple Lerntheorie. Handlung – Konsequenz. Ich mache etwas und erreiche etwas dadurch. Wenn mich also ein Hund anspringt, weil er spielen möchte oder irgendetwas anderes von mir verlangt, kann ich diese Handlung ignorieren. Wenn der Hund diese Handlung, vielleicht als Welpe, erstmalig ausführt, kann er lernen, dass diese Handlung nicht den von ihm erwünschten Erfolg hat. Ignorieren in der Hundeerziehung heißt also nichts anderes als auf eine Reaktion eines Hundes nicht zu reagieren. Immer Situationsbedingt!  Übrigens, weil sich die Menschen ja auch immer so schön über Rangordnungen und „Chefrollen“ auseinandersetzen. Unter Hundeartigen, die ein halbwegs normales Leben führen dürfen (Dingos, Straßenhunde z. B. in Afrika, Wölfe, Kojoten, Füchse, etc.) zeichnen sich die „Chefs“, welche meist die Eltern sind, dadurch aus, dass sie seltener auf Aktionen der „rangniedrigeren Individuen“ reagieren, als umgekehrt. Rangordnungen unter Hundeartigen werden in erster Linie durch das Verhältnis von Aktion und Reaktion zueinander gebildet, und nicht durch Kampf oder andere schmerzhaft Maßnahmen. Auf dessen Aktion reagiert wird, dem wird vertraut, der steht im Rang hoch. Heißt also im Umkehrschluss, dass ständig nur regierende Individuen nicht wirklich als Vertrauenswürdig und mit Führungsqualitäten ausgestattet angesehen werden. Nicht reagieren auf Aktionen (ignorieren) ist ein völlig normales Mittel der Kommunikation, der Erziehung und der Statusdemonstration unter Hundeartigen. Nicht nur unter Hundeartigen, unter vielen sozialen Lebewesen…
Agieren und reagieren sind wichtige soziale Komponenten
Natürlich wird auch mal reagiert und abgebrochen, wenn einem Individuum etwas zuviel wird, wenn es schlechte Laune hat oder genervt ist. Eine Reaktion auf eine Aktion ist aber bei denjenigen Individuen seltener, die Erziehungsaufgaben übernehmen oder im Rang höher stehen. Natürlich reagieren auch Eltern auf die Aktionen des Nachwuchses, es steht immer alles in einem gesunden, sozialverträglichen Verhältnis. Aber, wie gesagt, ignorieren ist ein völlig üblicher und völlig natürlicher Weg im Sozialverhalten von Hunden. Allerdings immer nur situativ, immer nur auf eine direkte Handlung bezogen. Einen Hund über einen längeren Zeitraum zu ignorieren, als Strafe oder wie auch immer man das aus menschlicher Sicht meint, ist grundsätzlich falsch. Das versteht ein Hund nicht und fühlt sich dadurch sozial isoliert, was seiner Psyche schaden kann. Man kann also ganz klar festhalten, und um die Verwirrung etwas zu entwirren, dass man situativ Hundeverhalten durchaus ignorieren kann. Aber wirklich nur situativ, niemals über einen längeren Zeitraum.
Wenn die Situation so ist, dass der Hund eine starke Erwartung hat, kann eine starke Erregung des Hundes dazu führen, dass ignorieren nichts bringt, dass die freudige Erwartung den Hund emotional so aufputscht, dass man ihn letztlich nur durch eine Ersatzhandlung „zufriedenstellen“ kann. Als Beispiel: Wenn man die Leine vom Haken nimmt um mit dem Hund zum Gassigang aufzubrechen, kann es sein, dass ein Hund vor lauter Vorfreude an uns hochspringt. In dem Fall wird ignorieren nicht viel bringen. Mit z. B. einem gut trainierten „Sitz“ kann man dann daran arbeiten, dass sich der Hund nicht so aufschaukelt. Aber in den normalen, grundsätzlichen Situationen des täglichen Lebens ist ignorieren, das NICHT REAGIEREN auf eine Aktion des Hundes, der eine Reaktion provozieren möchte, vollkommen normal. Ich wage an dieser Stelle im Klartext zu behaupten, dass jeder, der etwas anderes behauptet, ernsthaft sein Hintergrundwissen überdenken sollte.
Gern nutzen „Hundeexperten“, die so etwas behaupten in Seminaren oder bei Vorträgen kurze Filmsequenzen, wo gezeigt wird, wie Hunde (oder auch Wölfe etc.) eine Handlung eines anderen nicht ignorieren und diese gezielt abbrechen (drohen, rempeln, was auch immer). Um dann zu erwähnen, dass man ja sehen könne, wie Hunde etwas unterbinden und nicht ignorieren. Solch eine Darstellung halte ich für höchst unseriös. Warum? Ganz einfach. Es kann ja sein, dass diese Szene eine Ausnahme ist. Es kann sein, dass von 100 Aktionen des einen Individuums 99 ignoriert wurden und es sich nur einmal zu einer kurzen, heftigen Reaktion hinreißen ließ. Und diese einzelne Situation wird dann so „verkauft“, als würden Hunde alles so untereinander regeln. Dieses „aus dem Kontext reißen“ ist übrigens ein uraltes Stilmittel der Menschenbeeinflussung. In der Politik, in der Werbung etc.
Selbst erkennen und erfahren
Ich kann guten Gewissens behaupten, dass ignorieren, dieses“ nicht auf jede Aktion reagieren“, weitaus häufiger unter Hunden, Hundeartigen (ob „wild“ oder domestiziert) vorkommt, als mancher „Hauruck-Hundetrainer“ es gerne wahrhaben möchte. Das ist unglaublich schwer für Menschen zu verstehen, vor allem für die heutigen Menschen, die in einer Welt leben, die aus einer blitzschnellen Aneinanderreihung von Informationen besteht. Aber eigentlich kann man das überall um uns herum sehen, auch in unseren Dienstleistungs- und Industrienationen. Man braucht dafür nichteinmal stundenlang bei Minustemperaturen oder brütender Hitze Wildtiere zu beobachten, wie ich das beruflich oft mache. Wenn Sie mehrere Hunde halten, beobachten sie diese einmal über viele Stunden bewusst. Und machen Sie sich einmal genaue Notizen, ob, wie oft und wie aufeinander reagiert oder ignoriert wurde. Und dabei meine ich nicht, wenn Hund „zum Spielen“ in einem Hundeauslauf zusammengebracht werden. Das ist keine normale Situation. Machen Sie die Strichliste bei einem normalen Tagesablauf über viele Stunden und beobachten ihre Hunde genau. Schwer daran ist, die Beobachtung durchzuhalten, weil die Interaktion nämlich meist unspektakulär und ruhig abläuft. Oder um mal von den Hunde wegzukommen. Setzen Sie sich mal an eine Weide mit Kühen und Pferden und machen eine ähnliche Strichliste wie vorher beschrieben. Über einen langen Zeitraum, wie gesagt, keine aktionsgeladenen Momente hervorheben. Sie werden sich wundern, wie oft das Ignorieren von Handlungen, das NICHT reagieren auf die Aktion eines anderen Individuums des sozialen Umfelds, durchgeführt wird. Und sie werden sich wundern, wie ein Mensch ernsthaft behaupten kann, dass ignorieren in der Natur nicht vorkommt…
Ignorieren völlig normal
Lange Rede und der sprichwörtlich kurze Sinn. Ich kann hier ganz klar festhalten, dass situatives (!) Ignorieren einer Handlung ein wichtiges und normales „Erziehungsmittel“, Kommunikationsmittel ist. Natürlich kann es sein, dass der Hund durch diverse Schlüsselreize (auf die wir Menschen ihn meist selbst konditioniert haben) sich sehr schnell in einen Erregungszustand versetzt, wo ignorieren nichts mehr bringt. Da muss ich dann mit Ersatzhandlungen arbeiten. Aber natürlich gibt es auch unglaublich penetrante Hundevertreter, die einfach von ihrer Natur aus einen langen Atem haben. Natürlich darf, kann und sollte man da auch mal ein Abbruchsignal setzen (schmerz- und gewaltfrei, aber bestimmt!). Alles auf Situation und Individuum zugeschnitten.
Auf keinen Fall kann man sagen, dass ignorieren pauschal verkehrt ist. Aber es ist genauso verkehrt, wenn man das Ignorieren als pauschales „Allheilmittel“ ansieht. Man muss es immer der Situation und den beteiligten Lebewesen angemessen anwenden – alles andere ist unseriös. Ich habe zudem den persönlichen Eindruck, der nicht richtig sein muss, dass ignorieren gern von den „Hundeexperten“ verteufelt wird, die gern mal „draufhauen“. Eben um das „Draufhauen“ zu rechtfertigen, und es gar nicht erst probieren mit Ruhe, Souveränität und mal mit „über eine unerwünschte Handlung hinwegsehen“ probieren wollen. Aber, wie gesagt, das ist meine subjektiver Eindruck…
Zur „Entwirrung“ der Hundehalter…
Also, liebe Hundehalter, mal  ganz einfach, zur Entwirrung ausgedrückt: Lassen Sie sich nicht von dem Heer der Rechthaber und Schlaumeier verunsichern, die sich täglich neue Verwirrungsmodelle in der Hundeerziehung ausdenken. Ignorieren ist bei Wölfen seit 5 Millionen Jahren ein wichtiges „Erziehungsmittel“. Und auch wir können und sollten es anwenden, wenn es situativ passt und funktioniert. Es ist aber kein Allheilmittel welches pauschal immer  wie bei einem Roboterwirkt. Ein Hund ist nämlich kein Roboter J
Und bedenken sie immer, die Grundeigenschaft eines guten „Leittieres“ ist, NICHT immer auf jede Aktion zu reagieren. Ein seit Jahrmillionen erprobtes Führungsmodell. Daran ändern auch vor wenigen Jahren entwickelte „Hundeausbildungssysteme“ nichts…
Kurze Zusammenfassung
-          Ignorieren ist situativ eingesetzt ein gutes und sehr wichtiges Mittel zur Hundeerziehung.

-          Ignorieren ist aber kein pauschales Allheilmittel.

-          In Situationen, wo ignorieren nicht wirkt oder nicht mehr wirken kann (z. B. aufgrund biochemischer Vorgänge etc.), muss man auch mal reagieren. Z. B. über Ersatzhandlungen oder auch Abbrüche – diese aber vernünftig und mit Verstand ausgeführt!

-          Pauschale Behauptungen  ignorieren wäre falsch oder „nicht natürlich“, entbehren jeder vernünftigen Grundlage – und werden wohl in erster Linie als Marketinginstrument genutzt, um sich ein Alleinstellungsmerkmal zu generieren. Oder um eine schlechte Behandlung zu rechtfertigen. Auf jeden Fall nicht zum Wohl der Hunde…

-          Ignorieren darf  immer nur situativ eingesetzt werden und niemals über einen längeren Zeitraum. Das wäre soziale Isolation, die sich negativ auf die Psyche des Hundes auswirken kann. Außerdem wird der Hund keinen Bezug zu seiner Isolation und einer unerwünschten Handlung herstellen können. Soziale Isolation ist also niemals der konkreten Sache dienlich, sondern verunsichert die Hunde nur.

Dieser Wolf ignoriert während seiner Ruhepause so ziemlich alles... (c) Thomas Riepe 2010

Nachtrag:
Wie schon öfter in diesem BLOG erwähnt sind Kommentare ausdrücklich erwünscht. Allerdings keine anonymen. Die werden konsequent ignoriert ;-)

Nachtrag 2:
Danke für die Anregung, Martina. Werde ich in einem späteren Post berücksichtigen.  
     Jetzt kann ich aber kurz schon folgendes erwähnen: Wenn meine Aufmerksamkeit nicht der funktionale Bestärker ist, kann das zum Beispiel die Situation sein, dass der Hund am Zaun bellt, weil ein "Feind" vorbeigeht (das darf er mMn. auch, es darf nur nicht zuviel werden...). Wenn ich das Bellen, welches garnicht an meine Adresse gerichtet ist über ein vernünftig trainiertes Alternativverhalten beenden kann, ist das vollkommen okay. Allerdings muss man auch immer aufpassen, es gibt Hundeindividuen, die sich aus dem Alternativverhalten ein Spielchen machen, um an das schließende Leckerchen zu kommen ;-) Das sind dann aber die Schlaumeier unter den Hunden. Gut, Alternativverhalten in dem Fall ist okay, also auch eine Reaktion meinerseits, in vernünftiger Form. Stelle ich mich aber hinter den Hund und rufe "AUS, AUS, AUS, STILL, RUHE usw.", dann stimuliere ich den sowieso erregten Hund nur noch mehr. Da ist es dann besser, selbst ruhig zu sein und den Hund nicht noch mehr "aufzuheizen" - ignorieren ist also nicht der einzige oder pauschal beste Weg, aber immer noch besser, als blinder Aktionismus, der letztlich die Situation nur noch schlimmer macht. Wir müssen auch immer bedenken, dass nicht alle Hundehalter ein Ethologiestudium hinter sich haben oder jahrelang mit Hunden gearbeitet oder geforscht haben. Wenn sie sich vertrauensvoll an "Hundeexperten" wenden und diese ihnen sagen, ignorieren sei grundsätzlich falsch, dann werden die Hunde wieder unnötig mit "AUS, AUS, AUS Geschrei" konfrontiert. Oder sogar mit Züchtigungen. Was im Fall des am Zaun bellenden Hundes eine Katastrophe im Vertrauensbereich wäre. Er bellt, weil er Familie und Territorium verteidigen möchte und sein Mensch schlägt ihn dafür...
     Also, wenn man nicht genau weiß was man tut oder tun kann, ist es besser, mal nichts zu machen, als durch sinnlose Aktionen das völlig Falsche zu tun. Beim Umgang mit Hunden sind Ruhe und Souveränität immer noch bessere Ratgeber als falscher Aktionismus. Auch wenn Ruhe und Souveränität heute nicht mehr gefragt sind, damit man immer kompliziertere Trainingskonzepte verkaufen kann…

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