Trennungsangst = Dominanz?!
Ich neige dazu, mir mein Wissen von denen zu holen, „die sich damit auskennen“. Trotz all der Literatur und all der Lehr- und Vermittlungsmethoden, die heute rund um das Thema Hund angeboten werden und trotz all der Möglichkeiten, sich in dem Bereich weiter zu bilden, bin ich der festen Überzeugung, dass Hunde nach wie vor die besten Lehrmeister sind. Ihr Verhalten zu beobachten und zu analysieren lässt mich viele Aussagen von Menschen mit gemischten Gefühlen betrachten. So auch die Aussage einer Kundin, die in einer Hundeschule „gelernt“ hatte, dass ihr Hund sie nur dominieren wolle, wenn er jault, während er allein gelassen wird. Trennungsangst habe der keine und bei den von sich gegebenen Pfützen handele es sich um ein Protestpinkeln, das dazu dienen soll, sie dazu zu bringen, ihn fortan lieber mitzunehmen.
Hierzu zwei Beobachtungen, die ich im Laufe der Jahre machen konnte. Zunächst vom Vorfahren der Hunde, dem Wolf. Ich beobachtete im amerikanischen Yellowstone Nationalpark eine Wolfsfamilie von einem wunderschönen Aussichtspunkt aus, von dem aus ich über das ganze Tal sehen konnte. Es war tiefer Winter und die weiße Schneelandschaft mit den grauen und schwarzen Tieren begünstigte die Beobachtungen des Verhaltens dieser Wolfsfamilie, die aus einem Elternpaar mit einigen Sprösslingen aus dem letzten Frühjahr bestand. Einem dieser Jungwölfe wurde der lange, ereignislose Aufenthalt an diesem Ort offenbar zu langweilig, und so entschloss er sich, mal ein wenig die nähere Umgebung zu erkunden. Er verschwand unbemerkt von der schlafenden Familie hinter einem Fels in westliche Richtung. Kurze Zeit später erwachte eines der Elterntiere, reckte und streckte sich, gähnte kräftig und machte sich auf, in östliche Richtung davon zu traben. Wie von Geisterhand geweckt sprangen nun alle anderen Wölfe ebenfalls auf und folgten dem Alttier. Nach einer Weile kam der gelangweilte Abenteurer zum Lagerplatz zurück, von dem sich alle anderen in eine andere Richtung verabschiedet hatten und machte einen wirklich verwunderten Eindruck, als er niemanden von seiner Familie vorfand. Hätte er die Ruhe bewahrt, dann hätte er mit Sicherheit der Fährte des Rudels folgen können, aber er war noch so jung und unerfahren, dass er nur eine Möglichkeit sah, etwas gegen seine Verlustängste zu unternehmen: Er heulte los. Für mich ist es etwas Wunderschönes, etwas kaum in Worte zu fassendes, einen in Freiheit lebenden Wolf heulen zu hören. Doch es kam noch besser – aus Osten stimmte das Rudel ein und ein Chorheulen legte sich über das Winterland. Momente, die mit Geld nicht zu bezahlen sind... Doch bevor ich weiter ins Schwärmen gerate, sei erzählt, dass der junge Wolf und seine Familie sich durch das Heulen wiederfinden konnten. Das Heulen war also ganz klar eine Reaktion auf die Trennungsangst des Jungtieres, natürlich in Kombination mit lautstarker Kommunikation über eine größere Entfernung.
Aber das sind ja Wölfe und keine Hunde, werden jetzt einige sagen. Stimmt natürlich, aber eine weitere Beobachtung wird verdeutlichen, dass sich Wölfe und Hunde in diesem Punkt nicht sehr unterscheiden. Meine Hündin Koka stammt aus dem Tierschutz, ich musste sie vom Flughafen abholen, als sie aus Spanien kommend in Deutschland eintraf. Koka hatte die letzten zwei Jahre mit ihrem jüngeren Bruder zusammen auf einer Finca gelebt. Leider konnten die Hunde nicht gemeinsam vermittelt werden, auch meine Aufnahmekapazität war mit ihr allein erschöpft. Koka kam nun also in einer Transportbox am Flughafen Düsseldorf an, ihr Bruder in einer weiteren Box. Noch konnten die Hunde sich sehen, aber natürlich entsprach es dem Lauf der Dinge, dass ich Koka mitnahm und ihr Bruder seinen Weg in sein neues Zuhause antrat. Als Koka dann in meinem Auto war, begann sie zu heulen. Sie heulte eine Stunde (!) lang exakt so, wie der junge Wolf in Yellowstone. Sie heulte herzzerreißend und ihr einziges Anliegen dabei war, Kontakt zu ihrem Bruder aufzunehmen. Sie fühlte sich allein ohne ihren Gefährten, ja überhaupt ohne ein bekanntes Lebewesen. Es wäre geradezu absurd anzunehmen, dass sie mich in dieser Situation dominieren wollte. Heute ist Koka eine sehr selbstbewusste Samojedendame, die in meinem zweiten Hund Puzzel einen wundervollen Partner gefunden hat, aber am Anfang hat sie ihrem Trennungsschmerz durch das Heulen sehr deutlich Ausdruck verliehen.
Hunde sind soziale Lebewesen, die von ihrer ganzen Anlage her dazu bestimmt sind, in einer Gemeinschaft zu leben. Sie gewöhnen sich an ihre Gefährten, mögen und lieben sie vielleicht. Aber auf jeden Fall fühlt sich ein Hund in der Gemeinschaft sicherer als allein. Allerdings sind Hunde auch sehr schlaue und anpassungsfähige Lebewesen und so gibt es sicher einige Vertreter unserer besten Freunde, die lernen, dass der Mensch sich um sie kümmert oder sie zumindest nicht allein lässt, je mehr Theater sie machen. Man spricht in diesem Fall vom so genannten aufmerksamkeitsheischenden Verhalten, dass sich allerdings nur entwickeln kann – und dies ist enorm wichtig! – wenn der Mensch ihm nachgibt. Das kann also bedeuten, dass ein Hund, der jault und deswegen nicht alleingelassen wird, dieses Mittel in Zukunft bewusst einsetzt, denn er hat über Verknüpfung gelernt: Wenn ich dies und jenes tue, lässt mein Mensch mich nicht allein. Dies bedeutet aber doch nicht, dass die Absicht des Hundes von Anbeginn war, seinen Menschen dominieren zu wollen! Die Absicht des Hundes bestand viel mehr darin, seiner Trennungsangst Ausdruck zu verleihen, eine Angst, die er tatsächlich empfindet und die übrigens biologisch sinnvoll, wenn auch für uns Menschen lästig, ist, denn in der freien Natur ist es für die rudelbildenden Kaniden äußerst wichtig, eventuell überlebenswichtig, den Anschluss an die Gemeinschaft nicht zu verlieren.
Nun werden einige Kritiker fragen, warum der junge Wolf aus dem Nationalpark dann allein losgezogen ist. Die Antwort ist ganz einfach: Im Gegensatz zu unseren Haushunden ist er nicht eingesperrt und kann sich jederzeit entscheiden, zu seiner Familie zurückzukehren. Diese Situation ist bei weitem nicht so beängstigend wie die, der unsere Haushunde ausgesetzt werden, wenn sie ohne entsprechendes Training einfach allein zurück gelassen werden und ihre Instinkte diesen Zustand mit Angst beantworten. Und bei dem in dieser Situation abgesetzten Urin handelt es sich auch nicht um ein „Protestpinkeln“. Mal ehrlich, wie wahrscheinlich ist denn, bei gesundem Menschenverstand betrachtet, die Annahme, dass ein Hund mit dem Gedanken in die Wohnung pinkelt „Jetzt ärgere ich mal meinen Besitzer und der muss schön putzen, wenn er nach Hause kommt. Da sieht er dann, was er davon hat...“?! In Stresssituationen – und in der befindet sich der allein gelassene Hund voller Angst – produziert der Körper vermehrt das Hormon Aldosteron, das für den Wasserhaushalt im Körper zuständig ist. Deshalb muss der Hund – und übrigens auch wir Menschen – vermehrt urinieren, wenn er sich sehr aufregt. Dies ist der häufigste Grund, weshalb ein Hund in die Wohnung uriniert, wenn er allein gelassen wird. Ein anderer wäre, dass er zu lange allein gelassen wird oder vorher nicht ausreichend lange Gassi geführt wurde, was zur Folge hat, dass seine Blase einfach voll ist und er den Urin nicht mehr zurückhalten kann... was nicht gerade für ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein des Halters gegenüber seinem Tier spricht.
Zusammengefasst kann man also sagen, dass Hunde durchaus lernen können, allein gelassen darauf zu vertrauen, dass ihr Mensch zu ihnen zurückkehrt. Aber, wie gesagt, sie müssen es erst lernen und ihnen dabei durch entsprechendes Training zu helfen, liegt in unserer Verantwortung. Trennungsängste als nicht existent zu bezeichnen oder geschweige denn eine vermeintliche Dominanzstrategie hinter den verzweifelten Versuchen des Hundes zur Kontaktaufnahme zu sehen, spricht nicht dafür, vom Wesen des Hundes wirklich etwas verstanden zu haben.
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Diese und weitere "Weisheiten" aus der Welt der Hunde findet man in meinem Buch
"Da muss er durch"