Der Jäger von Soest
Im Roman „Simplicius Simplicissimus“ von Hans Jakob
Christoffel von Grimmelshausen wird die Hauptfigur bekannt, indem sie, als
Jäger verkleidet, Raubzüge und Plünderungen rund um die westfälische Stadt
Soest unternimmt. Das „Jägerken von Soest“ ist bis heute fest verbunden mit der
Stadt, die sogar jährlich ein „Jägerken“ wählt, welches Soest z. B. bei
Veranstaltungen in anderen Städten repräsentiert.
Weitere Geschichten rund um meine Arbeit als Hundepsychologe finden Sie im Buch zu dem Thema: http://www.amazon.de/Wer-ist-hier-Schlaumeier-Geschichten/dp/3927708623/ref=sr_1_4?ie=UTF8&qid=1369039603&sr=8-4&keywords=thomas+riepe
Die historische Romanfigur kam mir spontan in den Sinn,
als ich folgenden Anruf erhielt: „Tach, D. am Apparat. Bin Jäger und habe Ärger
mit meinem Hund!“ Ein Herr D. aus Soest also, der sich gleich als Jäger ankündigte. Interessant, dachte ich und wartete
auf weitere Erläuterungen. Doch da kam nichts, nach dem Wort Hund erfolgte eine
fast schon bedrohliche Stille.
„Und?“, fragte ich dann in diese hinein.
„Sie können doch so einen Ärger wegmachen, oder etwa
nicht?“, grummelte der Soester Jäger.
„Ich kann gerne versuchen, Ihnen zu helfen, wenn Sie
ein Problem mit Ihrem Hund haben. Dazu müsste ich aber erst einmal wissen, was
das Problem überhaupt ist“, entgegnete ich dem Gebrummel am anderen Ende der
Leitung.
„Das ist ein Scheißköter, funktioniert nicht und kommt
nicht, wenn ich ihn rufe. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen, ich kann mich mit
dem nicht mehr sehen lassen!“
Tja, da hatte ich nun eines dieser Menschenexemplare
am Telefon, die mit Sicherheit nicht zu der Klientel gehören, mit denen ich
gerne zusammenarbeite. Die Zunft der Jäger in Mitteleuropa ist nämlich eine
ganz eigene Art von Mensch. Ein sich sehr elitär fühlendes Völkchen, welches
den Anspruch auf Wahrheit dermaßen für sich gepachtet hat, dass jeder, der auch
nur eine Spur von Kritik an der Jagd ausübt, gleich verteufelt wird. Ich bin
kein verbissener Jagdgegner, kritisiere aber durchaus eine vermeintlich elitäre Jagdgesellschaft, die in
erster Linie verkrusteten Traditionen huldigt und die Machtgelüste ihrer
Mitglieder unter dem Deckmantel der Notwendigkeit und des Naturschutzes rechtfertigt.
Dabei konnte noch nie auch nur im Ansatz wissenschaftlich belegt werden, dass
z. B. eine Jagd auf Raubtiere, die am oberen Ende der Nahrungskette stehen (wie
zum Beispiel der Verwandte unserer Hunde, der Rotfuchs), überhaupt notwendig
ist. Im Gegenteil: Raubtiere regulieren sich über ein Reviersystem selbst und
sind auch keine „Seuchenträger“, was die Jägerschaft oft als Jagdgrund angibt.
Wer sich genauer über dieses Thema informieren möchte, kann dies in meinem Buch
„Hundeartige“ tun, welches 2008 erschienen ist.
Hier geht es allerdings nicht um die Jagd und die
Jäger an sich, sondern um Geschichten von Hunden. Und in diesem Zusammenhang
einen Jäger als Kunden zu haben, ist schon erstaunlich. Jäger bleiben, wenn sie
Probleme mit ihren Hunden haben, gern unter sich, wohl auch aus dem Grund, dass
nicht jeder die Methoden der Jagdhundeausbildung mitbekommt. Der Jäger von
Soest, dessen Hund nach seiner Aussage „nicht funktionierte“, wollte offenbar
von mir eine Art Wunderheilung, damit er sich bei seinen Jagdkumpanen wieder sehen
lassen konnte … Dem Tier zuliebe vereinbarte ich einen Termin, denn ich war mir
sicher, dass der Hund Probleme mit seinem Besitzer hatte und nicht umgekehrt.
Da Herr D. nicht wollte, dass ich ihn daheim besuche – jemand hätte ja sehen
können, dass er meine Hilfe in Anspruch nahm – und er auch nicht zu mir kommen
wollte – dort konnte er ja auch gesehen werden –, entschieden wir uns für den
einsamen Treffpunkt im Wald, was in dem Fall sogar einen Sinn machte. Nicht
weil ich dafür war, dass der Jäger inkognito blieb, sondern weil die Probleme
mit dem Hund in der Feldflur auftraten.
Es war ein ungemütlicher Herbsttag; schon seit
mehreren Tagen hatte es durchgehend leicht geregnet und die nicht befestigten
Feldwege waren matschig und rutschig. Da ich zuerst am vereinbarten Ort war,
konnte ich beobachten, wie Herr D. mit seinem Geländewagen vorfuhr. Ich möchte
hier keine Klischees bemühen, aber dieser Mann war wirklich ein solches auf
zwei Beinen und bediente die Vorurteile, die normal sterbliche Menschen von
Jägern haben, vorzüglich. Er steuerte einen Geländewagen von der Größe und Stärke,
dass er damit locker eine Sandwüste hätte durchqueren können. Im flachen
Soester Umland war die Notwendigkeit für ein solches Fahrzeug, selbst wenn man
durch sein Hobby ab und zu auf unbefestigten Wegen unterwegs war, absolut nicht
gegeben. Die Förster in unserer Gegend fahren übrigens Renault-Kangoos ohne
Allradantrieb – und die müssen beruflich täglich in den Wald.
Als Herrn D. ausstieg
und mehr aus Verpflichtung als
freundlich ein „Tach“ grummelte, offenbarte er weitere Klischees. Natürlich –
wie sollte es auch anders sein – trug er seine Jägeruniform: grüne Hose, grüner
Pullover und grüne Jacke. Dazu ein zünftiges Hütchen – Sie dürfen jetzt raten,
in welcher Farbe … Nach der Begrüßung wollte er behänden Schritts zur Rückseite
seines Panzers schreiten, um den Hund herauszulassen. Doch das gelang ihm nicht ganz. Der vorher beschriebene
matschige und rutschige Boden machte ihm einen Strich durch die Rechnung und der
stolze Jäger rutschte auf einem schlammigen Stück Erde aus. Seinen vehementen
Weg Richtung Kofferraum konnte er nicht fortsetzen, stattdessen wurde die
Energie seines Schrittes umgeleitet: Das Bein, mit dem er in den Morast
getreten war, zeigte auf einmal und blitzschnell in Richtung Himmel, während
sein Oberkörper sich dem nassen Erdreich zuwandte. Dabei fiel er nicht wie die
berühmte Bahnschranke, auf irgendeine Weise sah der Sturz sogar elegant aus.
Weniger schick wurde allerdings die Landung. Herr D. klatschte mit einem lauten
Geräusch auf den matschigen Boden, wobei die Hälfte seines Rückens noch eine
Pfütze erwischte. Oh Gott, dachte
ich, hoffentlich hat er sich nichts
getan. Auf jeden Fall wird er ganz schön meckern, wenn er aufsteht.
Aber da irrte ich mich. Gerade als ich ihm aufhelfen
wollte, erhob sich das Jägerken genauso schnell wieder, wie es gefallen war.
Sein Kopf war zwar hochrot, aber die für mich amüsante und für ihn peinliche
Situation sollte offenbar so gut wie möglich überspielt werden. „Dann wollen
wir mal den Hund holen“, entfuhr es ihm mit seiner grummeligen Stimme. Die
ganze Szenerie war dermaßen komisch, dass ich am liebsten laut losgelacht
hätte, diesen Drang aber musste ich aus Gründen der Höflichkeit unterdrücken. Als
ich den Mann dann aber von hinten sah mit einem schönen braunen Matschfleck auf
der grünen Jägeruniform, war es für mich noch schwerer, mich zurückzuhalten.
Ich war froh, dass endlich der Hund aus dem Fahrzeug kam und ich mich auf etwas
anderes konzentrieren konnte. Der jedoch stürzte sich sofort auf etwas, was
ungefähr an der Stelle lag, wo Herr D. seine Rückenlandung vollzogen hatte. Er
nahm es auf, hielt es in seinem Fang und schaute uns mit schrägem Kopf an. Erst
da erkannte ich, was er dort aufgesammelt hatte. Mir war in der Komik und
Hektik des Augenblicks entgangen, dass Herr D. sein Hütchen verloren hatte. Und
das hatte der Hund nun in der Schnauze. In diesem Moment war es mir unmöglich,
weiterhin das Lachen zu unterdrücken. Ich platze los. Und selbst der grummelige
Jäger bewegte seine Mundwinkel nach oben und zeigte so etwas wie ein Lächeln.
Zeichnung: Zapf |
Als er mir allerdings seine Hundeprobleme schilderte, verging
mir das Lachen recht schnell wieder. Eigentlich
war es der Klassiker schlechthin: Der Hund kam nicht auf Zuruf zu seinem
Besitzer, und je mehr er für dieses Verhalten bestraft wurde, desto schlechter folgte
er. „Der muss doch wissen, dass er eine Tracht Prügel kriegt, wenn er nicht
kommt“, sagte der Mann. Und in einem aggressiv gesprochen Ton schrie er: „HIER“.
Der Hund reagierte sofort, hielt in seinem Tun inne und schaute stocksteif zu
seinem Besitzer. Dessen Stimme wurde nun so unfreundlich, dass sogar die
umstehen Bäume zur Flucht bereit gewesen wären.
Was macht ein schlaues Lebewesen in einer solchen
Situation? Natürlich: Es möchte Ärger vermeiden und vollzieht daher lieber keine schnellen,
aufreizenden Bewegungen, die das aggressive Gegenüber zusätzlich reizen
könnten. Unter normalen Kreaturen funktioniert die Strategie der Vermeidung von
Auseinandersetzungen sehr gut. Viele nennen das beschwichtigen, wobei das Wort beruhigen
vielleicht besser passt. Hunde benutzen ein solches Verhalten und kommen damit
im allgemeinen auch gut zurecht. Allerdings sind Menschen keine normalen
Lebewesen mehr, Jäger noch viel weniger und Herr D. war dazu noch ein ganz
spezielles Exemplar dieser Zunft …
Harro – so hieß der Hund, der übrigens ein
Deutsch-Drahthaar-Rüde war, – hatte
gelernt, auf Zuruf die Handlung, die er gerade ausführte, zu unterbrechen und
zu Herrn D. zu blicken. Ich möchte gar nicht wissen, wie er das beigebracht
bekommen hatte, vermutlich über das verbotene Elektroreizgerät. Mehr dazu in
einem späteren Kapitel. Hier ging es jetzt darum, Herrn D. zu vermitteln, was
in Harro vorging, der ja machte, was von ihm verlangt wurde. Doch das unfreundliche
und aggressive Gebrülle seines Besitzers hielt ihn davon ab, schnell zu ihm zu
kommen. Die einzig logische Verhaltensweise für den Hund war es, sich so wenig
wie möglich und so langsam es ging zu bewegen, um das Jägerken nicht noch mehr
zu provozieren. Aber genau das Gegenteil passierte. Denn als Harro dann endlich bei seinem Halter
war, wurde er auch noch geschlagen. War es dann nicht besser, überhaupt nicht
mehr zu ihm hinzugehen?
Ein Hund verknüpft nun einmal direkt, er führt eine
Handlung aus und die darauf folgende Konsequenz wird der Tat zugeordnet. Er begreift
nicht, wenn ein Mensch ihn für etwas ausmeckert oder bestraft, was einige Zeit
zurückliegt und sich schon andere Handlungen zwischengeschoben haben. Da hilft
es auch nichts, wenn der Mensch dem Hund erklärt, was er tun soll. Abstrakte
Sätze versteht dieser nämlich nicht. Der Mensch, dessen Fähigkeit, theoretische
Zusammenhänge zu durchschauen, deutlich besser ausgeprägt ist, ist sehr oft allerdings
nicht in der Lage zu begreifen, wie die Struktur des Denkens und Lernens bei
seinem Vierbeiner funktioniert. Das Problem vom Jägerken und Harro war im
Prinzip relativ klein, sie verstanden sich nur gegenseitig nicht. Herr D.
dachte, der Hund sei aufsässig, stur oder dominant, weil er den „HIER“-Befehl
nicht ausführte. Und Harro verknüpfte das Herankommen mit Prügel. Man hätte ihm
nur beibringen müssen, dass er etwas Positives zu erwarten hat, wenn er auf
einen bestimmten Befehl hin zu seinem Besitzer kommt. Den in diesem Fall negativ besetzten Begriff
„HIER“ hätte der Jäger durch ein anderes Wort austauschen und in Gleichklang
mit einer Belohnung bringen sollen. Das muss übrigens nicht immer Nahrung sein.
Auch ein Spielzeug oder einfach nur ein Lob sind geeignet. Man muss sehen, was
individuell beim jeweiligen Hund den Erfolg bringt. Wenn Harro den neuen Befehl
für das Herankommen mit einer positiven Konsequenz hätte verbinden können, wäre
er sicher gerne und schnell gekommen. Aber wie Sie sicher schon bemerkt haben,
schreibe ich gerade im Konjunktiv. Herr D. war nämlich nicht bereit, sich auf
ein solches Training einzulassen. „Waschweibermethoden“, zischte er, „ich
dachte, Sie können den Hund eben schnell dazu bringen, auf mich zu hören.“
Herr D., das Jägerken von Soest, war nicht nur
unfähig, seinen Hund zu verstehen, er konnte nicht einmal einen Menschen
verstehen, der ihm wirklich logische Argumente lieferte. Zusätzlich war ich
bemüht, ihm dies so einfach wie möglich zu vermitteln – Grundschulkinder
verstehen mich meist nach wenigen Sekunden –, aber Herr D. konnte oder wollte
seine Sicht auf die Dinge nicht im geringsten verändern. So zog er ab; in
seiner grünen, nassen Kleidung stieg er in den Panzer und fuhr los. Leider
konnte ich nicht mehr für den Hund tun. Das tat mir unendlich leid, weil ich
genau wusste, wie dieses Tier weiterhin erzogen werden würde. Es blieb mir nur,
Herrn D. noch einen Rat mit auf den Weg zu geben: „Denken Sie daran, Herr D.,
es ist verboten, Hunde mit Mitteln auszubilden, die Schmerz verursachen. Wenn
ich Sie zufällig irgendwo sehe, wie Sie Ihren Hund verprügeln, werde ich mich
nicht scheuen, die Behörden zu informieren!“
Ich sagte dies aus Frust und in der Hoffnung, dass
Herr D. vielleicht doch noch einmal seinen Kopf zum Denken benutzen würde. Letzterer
ist schließlich dazu da, und nicht nur, um grüne Hütchen zu tragen. Obwohl – beim
Jägerken von Soest war ich mir nicht sicher, ob sein Kopf nicht doch nur als
Huthalter gedacht war …
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