Entspannung in der Hundeerziehung. Können uns Indiens Hunde dabei helfen?
Indien ist ein Land, das man nur schwer beschreiben
kann. Zu mannigfaltig sind die Menschen und die Umstände, unter denen sie
leben. Auf den ersten Blick findet sich dort eigentlich nichts, was dem
Mitteleuropäer in irgendeiner Form vertraut vorkommen könnte. Vielleicht noch
die Ankunft am Flughafen und das typische Flair, welches alle Flughäfen der
Welt gemeinsam haben. Wenn man allerdings die Kofferbänder, den Zoll und das
Flughafengebäude hinter sich gelassen hat, betritt man im wahrsten Sinne des
Wortes eine fremde Welt. Eine fremde Welt, in der jedem geraten sein sollte,
sich kein Auto ohne einheimischen Fahrer zu mieten. Der Straßenverkehr
gestaltet sich, zumindest aus der Sicht eines Europäers, der es gewohnt ist
sich an Regeln im Straßenverkehr zu halten, äußert befremdlich. Die einzigen
Regeln, an die sich gehalten wird, ist der Linksverkehr und dass man andere
Verkehrsteilnehmer durch lautes betätigen der Hupe warnt, wenn man irgendein
(in meinen Augen) waghalsiges Fahrmanöver unternimmt. Sei es das Schneiden
eines LKW im Kreisverkehr und gleichzeitiges Abdrängen einer Motorrikscha. Oder
die Abkürzung über die Bankette, direkt hinter dem Obststand her und kurz vor
dem Eselkarren wieder auf die Straße. Verkehrsteilnehmer verlassen sich im
Straßenverkehr anscheinend mehr auf ihre Hupe und die Chaostheorie, als auf
Verkehrsregeln.
Indien ist anders
Diese für uns doch, sagen wir „gewöhnungsbedürftigen“
Verkehrsverhältnisse sind dort übrigens nicht nur in Millionenmetropolen wir
Delhi anzutreffen. In praktisch jeder Siedlung wird sich so fortbewegt, dass
immer der schnellere und dreistere zuerst sein Ziel erreicht…
Aber ich möchte mich nicht zulange mit den indischen
Straßenverhältnissen beschäftigen. Sie sind hier nicht das eigentliche Thema,
zeigen aber dennoch beispielhaft, dass man mit Indien ein Land betritt, welches
anders ist. Nicht nur der Straßenverkehr – die gesamte Kultur, der Umgang der
Menschen untereinander, der Umgang mit Tieren, das tägliche Verhalten ist
anders. Das ist nicht wertend gemeint, Indien oder Inder sind nicht besser oder
schlechter als das, was uns vertraut ist. Nur anders.
Die Menschen und die Kultur erschienen mir also bei
meinem Indienaufenthalt im Oktober 2011 „anders“. Aber die Menschen und das so
vielfältige und interessante Land an sich waren nicht der Grund, warum ich
Indien besuchte.
Wie sollte es anders sein, mein Augenmerk liegt bei
Reisen in andere Kulturen immer auf den Hunden der Länder. In Indien wollte ich
im Besonderen etwas über die Beziehung zwischen Menschen und Hunden erfahren,
um mich einer speziellen Frage anzunähern: Welche Form des Zusammenlebens
zwischen Mensch und Hund bereitet die geringsten Probleme. Wobei man natürlich
berücksichtigen muss, dass das Empfinden, was ein Problem ist, subjektiv zu
sehen ist.
Verschiedene Arten von
Hunden
Obwohl Indien, wie eingangs erwähnt, „anders“ ist als
Europa, eignet es sich nach meiner Meinung perfekt, um etwas über Hunde und
deren Bedeutung für Menschen im Allgemeinen zu erfahren. Um das zu verstehen,
sollten wir uns zunächst einmal anschauen, welche „Hundearten“ es dort gibt.
Und damit meine ich nicht, welche Rassen es dort gibt, sondern jeweils die Art
und Weise, wie die Hunde dort leben. Die erste „Art“ oder Gruppe, die man in
Indien findet sind die Haushunde, wie man sie auch bei uns findet. Diese leben
sehr eng bei Ihren Familien und werden, weil es in der Hektik der Indischen
Umwelt und des Straßenverkehrs für diese Hunde nicht anders möglich ist, an
Leinen geführt. In den meisten Fällen sind es Rassehunde, häufig englische
Rassen, wohl in der gemeinsamen Geschichte Indiens und Englands begründet. Aber
auch alle anderen Rassehunde, die sich die Menschen so „erdacht“ haben, kann
man in Indien finden. So werden die Grundstücke von reichen Menschen oft von
Dobermännern und Rottweilern bewacht, während die jungen Mädchen der Großstädte
auch schon einmal einen Zwergspitz in Ihrer Handtasche herumtragen. Obwohl der
Spitz in der Tasche und der Dobermann auf dem Villengrundstück auf den ersten
Blick nicht viel gemeinsam haben, zähle ich sie hier doch einmal zu der Gruppe
der Haushunde. Weil diese Hunde auch in Indien mit einem Leben konfrontiert
sind, welches sehr eingeschränkt und von vorgegebenen Regeln gekennzeichnet
ist. Sehr häufig werden diese „Haushunde“ auch in irgendeiner Form trainiert,
sie werden erzogen. Behalten wir also die Hundeart „Haushund“ als einen Teil
der Indischen Hundewelt im Hinterkopf. Und merken uns, dass diese Hunde meist erzogen
werden.
Straßenhunde und
Bauernhunde
Eine weitere „Art“ Hunde, denen man in Indien
praktisch an jeder Ecke begegnet, sind die Straßenhunde. Und gerade diese Hunde
machen Indien besonders interessant. Die indischen Straßenhunde sind nicht
einfach nur verwilderte Haushunde wie z. B. in den Süd- oder Osteuropäischen
Ländern. Nein, obwohl sich heute auch moderne Rassen mit den Straßenhunden
vermischen, sind indische Straßenhunde zum großen Teil noch ursprüngliche
Hunde, Nachfahren von Hunden, die seit vielen tausenden von Jahren nah beim
Menschen leben, auch mitten unter den Menschen, ohne jedoch jemals gezielt
selektiert bzw. gezüchtet worden zu sein. Und diese Hunde leben seit eh und je
zwischen den Menschen, ohne jedoch bestimmten Menschen zugeordnet zu werden.
Natürliche Selektion und Anpassung erlauben ihnen das Überleben.
Die dritte „Hundeart“ Indiens könnte man unter den
Begriffen „Bauernhunde“, bzw. „Laden- oder Hofhunde“ zusammenfassen. Gemeint
sind damit die Hunde, die direkt einer Familie, einem Bauernhof oder etwa einem
Laden oder Geschäft zuzuordnen sind. Die dort ihr Zuhause haben, die dort
gefüttert werden und dort mehr oder weniger eng mit „ihren“ Menschen
zusammenleben. Diese Hunde sind oft durch ein Halsband gekennzeichnet, werden
aber nie an einer Leine geführt und genießen keinerlei gezielte Ausbildung oder
Erziehung.
In Indien kann man also, grob gekennzeichnet, drei
Arten von Hunden, bzw. Hundeleben feststellen. Erzogene Haushunde, freie
Straßenhunde und unerzogene Hofhunde.
"Dicker" Haushund (c) T. Riepe
Unterschiedliches Leben
Lassen sie uns kurz auf das Leben der einzelnen Arten
eingehen. Die Haushunde leben eigentlich nicht wesentlich anders, als die
„modernen“ Haushunde bei uns. Sie dürfen nicht frei über ihr Leben entscheiden,
ihnen werden die meisten Handlungen, die sie gerne machen würden, untersagt und
sie dürfen nur das machen, was ihnen explizit erlaubt wird – und das ist nicht
immer das, was der Tierart Hund entspricht. Die Hunde werden also so
„ausgebildet“, dass sie funktionieren und sich „fehlerfrei“ in der menschlichen
Gesellschaft bewegen sollen. Natürlich an einer Leine, weil man ihnen nicht
beibringen kann, sich im Fahrzeugchaos zu bewegen…
Sich fehlerfrei in der menschlichen Gesellschaft und
in der menschlichen Umgebung bewegen können Straßenhunde alle. Könnten sie dies
nicht, würden sie nicht lange überleben. Straßenhunde sind freundlich bis
distanziert zu Menschen, sie meiden die direkte Konfrontation, den Konflikt mit
dem Menschen fast vollständig – bewegen sich aber sehr geschickt zwischen diesen.
Und sie bewegen sich sogar recht geschickt im Straßenverkehr. Natürlich werden
Hunde überfahren, aber wenn man die Anzahl von Fahrzeugen und Hunden in Indiens
Städten und Orten bedenkt, ist das Verhältnis von Unfällen sicher geringer, als
es man glauben möchte. Ich wollte einmal eine Straße in Delhi überqueren, was
mir nicht gelang, weil ich einfach nicht den Mut hatte, mich zwischen diesem
Chaos an Fahrzeugen und Menschen hindurchzuschlängeln. Während ich also auf
eine Lücke im Chaos wartete, überquerten einheimische Menschen und Straßenhunde
die Straße so, als wäre dort kein Verkehr…
Echte Straßenhunde bewegen sich souverän in der
menschlichen Umgebung und werden nicht erzogen…
Indischer Bauernhund (c) T. Riepe
„Bauernhunde“ (zur Vereinfachung fasse ich die Hof-,
Laden- und Bauernhunde einmal unter diesem Begriff zusammen) werden zwar auch
nicht gezielt erzogen oder ausgebildet, lernen aber aufgrund der Hunden
angeborenen sozialen Fähigkeiten und ihrer Anpassungsfähigkeit, welche Regeln
man im Zusammenleben mit Menschen beachten sollte, um ein entspanntes Leben zu
führen. Die Bauern geben, meist ohne darüber nachzudenken, gewisse Regeln vor,
an die sich die Hunde halten. Z. B., dass gewisse Räume nicht betreten werden
und man den Menschen keine Nahrung aus den Händen stiehlt. Das war es aber auch
schon. Über fast alle anderen Dinge des Lebens entscheiden die Hunde selbst,
sie beobachten viel und lernen dadurch, was gefährlich ist und was nicht. Sie
erkennen wie und wo sie ihren Vorteil finden und wie man ohne große Probleme
durch das Leben kommt. Eine echte Erziehung genießen sie nicht…
Dicke Haushunde,
gesunde Bauernhunde
Wenn man von diesen drei Hundegruppen der indischen
Gesellschaft spricht sollte man die gesundheitlichen Aspekte der einzelnen
Tiere nicht außer Acht lassen. Natürlich fallen da meine Beobachtungen und
Recherchen in gewisser Weise pauschal aus, da man nicht jedes einzelne
Individuum für sich betrachten kann. Was jedoch auffällt, ist, dass Haushunde
durchaus medizinische Betreuung genießen und auch auf „Hundefutter“ zurückgegriffen
wird. Die Hunde jedoch sehr oft relativ dick sind – eine Folge des tristen
Lebens an kurzer Leine und nur kurzen Gassigängen. Und der Tatsache geschuldet,
dass Haushunde, die mit durchgefüttert werden meist bei Menschen leben, die
mehr Geld verdienen als der durchschnittliche Inder und es besonders „gut“ mit
den Tieren meinen. Gutes Futter und gutes Training. Und dicke Hunde als
Ergebnis, mit allen bekannten gesundheitlichen Folgen.
Echte Straßenhunde hingegen brauchen sich um ihre
Figur keine Sorgen zu machen – im Gegenteil natürlich. Ihr Futter besteht im
Prinzip aus den Resten und dem Müll der menschlichen Gesellschaft. Wenn man
sich in Indien die Müllberge anschaut, ist Nahrung an sich für die Hunde sogar
vorhanden. Allerdings lässt natürlich die Qualität zu wünschen übrig,
Krankheitserreger werden sozusagen gleichzeitig mit aufgesammelt. Außerdem ist
der Konkurrenzdruck unter den Hunden recht groß, so dass viele Tiere stetig
einem hohen Stresslevel ausgesetzt sind. Räude und Hauterkrankungen, sowie
Erkrankungen am Bewegungsapparat sind bei Straßenhunden weit verbreitet und für
jeden ersichtlich.
Interessant zu beobachten ist die Tatsache, dass
Bauernhunde, die häufig direkten Kontakt zu Straßenhunden haben, selten an z.
B. Räude oder Hauterkrankungen leiden. Einfach, weil diese Hunde meist besser
durch die direkten Reste des Essens, was ihre Besitzer zu sich nehmen, genährt
sind und weniger Stress haben. Räudemilben haben bei einem gesunden, normal
genährten Organismus schlechtere Karten. Insgesamt schnitten die Bauernhunde
bei der Betrachtung des gesundheitlichen Gesamteindrucks am besten ab.
Bei der Gesundheit liegen indische Bauernhunde also
vor Haushunden und Straßenhunden – es gibt allerdings einen Punkt, bei dem
Bauernhunde deutlich hinter den anderen Gruppen liegen. Bei den Problemen, die
sie den Menschen bereiten.
Indische Straßenhunde (c) T. Riepe
Wenige Probleme mit dem
Verhalten der Straßenhunde
Eines meiner Hauptanliegen in Indien war, einmal ganz
unvoreingenommen für mich herauszufinden, zu welchen Problemen es zwischen
Menschen und Hunden kommen kann, wenn man ein mit Menschen und Hunden
„überbevölkertes“ Land wie Indien betrachtet. Dazu habe ich Menschen befragt.
Haushundebesitzer, Menschen auf der Straße ohne direkten Hundebezug, Bauern und
Ladenbesitzer mit Hunden usw. Oft konnte ich ein gewisses Unverständnis bis hin
zu starken Zweifeln an meinem Verstand erkennen. Für so viel Interesse an
Hunden bringen viele Inder nur ein untergeordnetes Verständnis auf. Trotzdem
waren die meisten Befragten gern bereit, mir Auskunft zu geben. Mit dem
Ergebnis, letztlich eine Aussage bezüglich der Hunde in Indien treffen zu
können. Natürlich waren meine Befragungen willkürlich und keinen
wissenschaftlichen Standards untergeordnet. Aber in meinen Augen durchaus
aussagekräftig. So zeigte sich deutlich, dass Probleme zwischen Menschen und
Hunden speziell einer Hundegruppe zugeordnet werden konnte: Den Haushunden.
Berichte über Beißunfälle oder Beschwerden über das Hundeverhalten an sich
kamen hauptsächlich von den Menschen, die einen Haushund besitzen. So wurde
häufig über Probleme der Leinenführigkeit, über Leinenaggressionen gegenüber
anderen Hunden, aber auch „dreistes Verhalten“ (wie anspringen, fordern etc.)
im Haus und im täglichen Leben berichtet. Interessant ist dabei die Betrachtung,
dass diese Hunde in über der Hälfte der berichteten Fälle von Trainern erzogen
wurden. Zumindest nach Aussage ihrer Besitzer…
Probleme mit Straßenhunden und Menschen waren laut
Aussagen der meisten Inder als eher gering anzusehen. Menschen wie Hunde halten
im Allgemeinen einen gewissen respektvollen Abstand zueinander, man lebt
nebeneinander her. Probleme gibt es, nach den Aussagen, die mir gegenüber
getroffen wurden, in erster Linie dann, wenn diese Hunde etwas „stibitzen“,
sich blitzschnell Nahrung z. B. aus Geschäftsauslagen stehlen. Zu Beißunfällen
kommt es in der Regel nur, wenn Tollwut mit im Spiel ist. Verhaltensbedingt
sind Konflikte zwischen Straßenhunden und Menschen eigentlich als eher selten
anzusehen – zumindest äußerte dies niemand mir gegenüber.
Noch weniger Probleme hatten die Menschen mit ihren
„Bauernhunden“. Ernsthafte Probleme oder Auseinandersetzungen kommen zwischen
diesen Hunden und Menschen anscheinend nicht vor, bzw. nicht oft vor. Auf mein
penetrantes Nachfragen und meine Suche nach irgendwelchen Problemen reagierten
viele Inder durchaus genervt, weil ihnen anscheinend wirklich nichts einfiel.
Als vorläufiges Fazit meiner Reise zu den indischen
Hunden, kann ich also festhalten, dass relativ frei lebende, kaum erzogene
Hunde, den Menschen praktisch keine Probleme bereiten und je mehr die Hunde
ausgebildet und erzogen werden, die Probleme auch vielfältiger werden.
Erziehung
Mit der Veröffentlichung dieser Zeilen möchte ich
natürlich nicht behaupten, dass Hunde nicht erzogen werden müssen und sich
dadurch alle Probleme in Luft auflösen. Das wäre sträflich falsch. Wie schon
eingangs erwähnt ist Indien „anders“ und nicht wirklich mit Europa, bzw.
Mitteleuropa im Speziellen zu vergleichen. In unserer absolut geordneten Welt
geht es nicht mehr ohne gewisse Regeln im Umgang mit dem Hund. Eine gewisse
Grunderziehung für Hunde in unseren Gesellschaften ist daher meiner Meinung
nach unerlässlich. Allerdings sollte man es auch nicht übertreiben. Hunde haben
so viele Fähigkeiten, sei es im sozialen Kontext oder sei es die
Anpassungsfähigkeit an sich. Und diese Fähigkeiten sind der Hauptgrund, warum
Menschen und Hunde überhaupt zusammen existieren können. Und Erziehung hat
einen wesentlich geringeren Anteil an dem Verhältnis zum Hund, als wir gerne in
unserer menschlichen Selbstüberschätzung zugeben… Also, natürlich müssen Hunde
bei uns erzogen werden, wir dürfen es aber nicht übertreiben und auch mal
Vertrauen in die Fähigkeiten der Hunde haben. In Fähigkeiten, die Hunde im
Straßenverkehr von Delhi überleben lassen, wo ich mit meinen Fähigkeiten weit
überfordert bin…
Vielleicht nehmen wir uns ein Beispiel am Verhältnis
der indischen Bauern zu ihren Hunden. Die meisten von uns können ihren Hunden
natürlich solch ein Leben nicht bieten. Aber wir können sicher versuchen, ein
solches Leben zu „simulieren“, ohne dem Hunde jede Kleinigkeit an- oder
abzuerziehen. Vielleicht einfach mal wieder dazu überzugehen, Hund einfach
Hunde sein zu lassen…