Grenzen, Grenzen, Grenzen
Wenn man sich mit Hundehaltung und Hundeerziehung
beschäftigt, hört man immer wieder folgende Schlagworte: „Hunde brauchen
grenzen“. Fast inflationär werden diese Worte eingesetzt. Mir stellt sich dabei
immer eine Frage: Welche Grenzen meint man eigentlich damit? Welche Grenzen möchte
der Hund eigentlich überschreiten? Was sind Grenzen überhaupt? Die Schlagworte
sind schnell ausgesprochen, doch bei näherer Betrachtung werden einige Fragen
aufgeworfen.
Damit man mich nicht falsch
versteht. Selbstverständlich ist eine Mehrhundehaltung möglich und kann auch
gut sein. Die Individuen müssen aber genügend Freiraum voneinander haben, sich
jederzeit großräumig aus dem Weg gehen können und auch mal einzeln ausgeführt
und/oder beschäftigt werden. Sonst kommt es zum „Lagerkoller“ und sozialen
Auseinandersetzungen, die nicht dem natürlichen Verhalten von Hunden
entsprechen.
Wenn ich irgendwo die Frage danach stelle, welche
Grenzen ein Hund denn eigentlich überschreiten möchte, fallen die Antworten
darauf meist recht sparsam aus. Viele, die den Hund als grenzüberschreitendes
Raubtier sehen, kennen die angepriesenen Grenzen nicht einmal.
Nun gut, aber was sind denn nun diese Grenzen, die
ein Hund angeblich überschreiten möchte? Und wenn er sie überschreitet, wird er
dann grundsätzlich zum gefährlichen, aggressiven Monster, wie es viele
Hundeexperten immer noch behaupten? Mitnichten. Es mag vielen vielleicht schwer
fallen, folgendes zu glauben. Aber von ihrem grundsätzlichen Wesen her sind
Hunde eigentlich viel mehr darauf erpicht, Konflikte zu vermeiden. Und Grenzen
überschreiten beinhaltet automatisch Konflikte…
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Am Ende des Textes werden wir sehen, was Grenzen
eigentlich sind und welche Grenzen Hunde überhaupt überschreiten wollen.
Um das etwas zu verdeutlichen, möchte ich zunächst
einmal auf das angeborene Sozialverhalten von Hunden eingehen, bevor am Ende
darauf eingegangen wird, welche Grenzen Hunde überhaupt überschreiten wollen.
Wenn sie denn wollen…
Sozial
anpassungsfähige Lebewesen
Der Hund ist von Natur aus sozial anpassungsfähig,
was sich in seiner evolutionären Vergangenheit begründet. Das Wildtier Wolf,
von dem alle heutigen Haushunde abstammen, ist ein soziales Lebewesen.
Allerdings wird von vielen Menschen das Verhalten von Wölfen innerhalb ihrer
natürlichen, sozialen Gruppen völlig falsch interpretiert. Es wird immer wieder
behauptet, dass Wölfe strenge Rangordnungen in Rudeln etablieren würden und
dass diese Rangordnungen durch Kämpfe und aggressive Auseinandersetzungen immer
wieder in Frage gestellt und gefestigt werden müssten. Das stimmt nicht. Heute
weiß man recht genau, dass dies ein falsches Bild des wölfischen
Sozialverhaltens ist. Die Irrtümer basieren vermutlich darauf, dass man früher
Wolfsverhalten an Tieren studiert hat, die auf engem Raum in Gehegen lebten,
sich nicht aus dem Weg gehen konnten und die in wild zusammengewürfelten Gruppen
leben mussten. In Gruppen mit nicht miteinander verwandten Individuen. Auf
engstem Raum, ohne Ausweichmöglichkeiten und mit fremden Individuen, die
möglicherweise nicht zum eigenen Charakter passen. Man kann sich das so
vorstellen, als ob man die gesamte Bandbreite des menschlichen Sozialverhaltens
daran festmachen würde, wie sich gefangene Menschen auf engstem Raum verhalten…
Familie
oder hierarchische Gruppe?
Das natürliche wölfische Sozialverhalten ist ganz
anders. In Freiheit leben keine fremden Individuen in großen Gruppen zusammen.
Ein Wolfsrudel ist eine Familie. Zwar werden diese Familien jeweils von einzelnen,
sich fremden Rüden und Weibchen gegründet. Danach bleiben diese Paarungen
jedoch in der Regel ihr Leben lang zusammen und bekommen einmal im Jahr
Nachwuchs. Dieser Nachwuchs bleibt ca. ein bis zwei Jahre bei den Eltern, bevor
er abwandert um sich eigene Partner zu suchen, um eine eigene Familien zu
gründen. Oft ist es dann so, dass junge, fast erwachsene Wölfe, die wenige
Monate vor der Abwanderung stehen, noch Babysitter für ihre kleinen Geschwister
spielen. Während die Eltern Nahrung beschaffen. So formt sich das angeborene
soziale Verhalten noch in besonderer Weise. Wolfswelpen lernen nicht nur den
Umgang untereinander, der soziale Kontakt zu mehreren älteren Artgenossen ist
eine weitere Lebensschule. Insgesamt muss man aber heute deutlich sagen, dass
Wölfe keine Rudel aus sich grundsätzlich fremden Individuen bilden und
innerhalb der sozialen Gemeinschaft, der Familie, keine Rangstreitigkeiten,
keine Ernstkämpfe um Status etc. durchgeführt werden. Den Eltern wird
automatisch vertraut und gefolgt. Und kein Welpe möchte z .B. seinen eigenen
Vater verdrängen, um dann mit der eigenen Mutter das Rudel anzuführen und
innerhalb des Familienrudels zum „Rudelführer“ aufsteigen. Das hat
evolutionsbiologische Gründe, weil bei einem solchen Szenario die genetische
Vielfalt zu gering bleiben würde, was insgesamt den Fortbestand der Art Wolf
gefährden würde. Kurz gesagt: Das streng hierarchische Bild, welches wir von
Wolfsrudeln haben basiert auf einer Reihe von Fehlinterpretationen und
Missverständnissen.
„Gefängnisleben“
verfälscht Normalverhalten
Doch was ist mit Hunden? Zu Recht wird jetzt
sicher mancher denken, dass Hunde doch keine Wölfe sind. Das stimmt natürlich. Hunde
sind domestizierte Wölfe, das heißt, sie haben sich (oder sie wurden) an den
„Lebensraum beim Menschen“ angepasst. Ihre sozialen Fähigkeiten haben sie beim
Domestizierungsprozess aber nicht verloren. Im Gegenteil. Ihre Fähigkeit, sich
sozial anzupassen ist in der Nähe von Menschen sogar noch wichtiger als unter
Artgenossen. Nur so schaffen es Hunde, seit vielen tausenden von Jahren mit uns
klarzukommen. Hunde sind also, wie der Wolf, immer noch sozial anpassungsfähige
Lebewesen, die in einer sozialen Gruppe eher um Harmonie als um Konflikte und
Rangordnungsstreitigkeiten bemüht sind. Wölfe wie Hunde sind eigentlich Meister
im vermeiden von Konflikten. Wenn man an dieser Stelle Bilder von kämpfenden
Hunden auf Spielwiesen vor Augen hat, oder Mehrhundehalter sagen, dass ihre
Hunde ständig aneinandergeraten, muss man wieder zur vorher genannten
Wolfsforschung zurückblicken. Als ich davon sprach, dass eingesperrte Wölfe in
willkürlichen Gruppen auf engstem Raum kein normales Sozialverhalten zeigen, so
kann man das auch auf die Hundebeispiele übertragen. Wenn man z. B. mit sehr
vielen Hunden auf engem Raum lebt, sich diese nicht aus dem Weg gehen können –
dann ist es wieder so, als würde man Gefängnisinsassen als Beispiel für die
gesamte menschliche Gesellschaft heranziehen.
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Straßenhunde
bilden keine Rudel
Schaut man sich zum Beispiel Hunde an, die relativ
frei leben können (z. B. Straßenhunde in Afrika), unterscheidet sich das
Sozialverhalten deutlich von dem der Hunde, die auf engstem Raum leben und
keine sozialen Freiräume haben. Relativ frei lebende Hunde zeigen im Prinzip
genau das Gleiche Sozialverhalten wie Wölfe. Ohne große Streitigkeiten mit
Artgenossen – auch aus dem Grund, dass frei lebende Hunde meist allein leben
und der falsche „Rudeleindruck“ daher kommt, wenn man mehrere Straßenhunde z.
B. an einer Futterquelle (Müllplatz etc.) beobachtet. Das Leben an sich gestalten
die meisten Straßenhunde aber solitär. Wenn (selten) Gruppen entstehen,
bestehen sie aus sich bekannten, oft verwandten Individuen, die sich trennen
oder aus dem Weg gehen, wenn es nicht mehr passen sollte. Und nicht um starr
fixierte Hierarchien, die durch ständige Kämpfe aufrecht erhalten werden
müssen.
Rangordnungen
und Grenzen
Zwar sind innerhalb der sozialen Gruppen von
Hunden und Wölfen Rangordnungen längst nicht so bedeutend, wie in der
Hundeerziehung immer wieder suggeriert wird. Allerdings werden im Umgang mit
Artgenossen durchaus Grenzen gezogen und gesetzt. Dieses Verhalten ist
allerdings immer nur im direkten sozialen Umgang von Individuen miteinander zu
beobachten. Das heißt, wenn es z. B. direkte Konflikte bezüglich Nahrungsressourcen
gibt oder wenn es im Spiel zu robust wird – immer dann wenn ein Verhalten zu
aufdringlich oder unverschämt wird. Dann wird meist rituell, mit Körpersprache
und Drohungen, aufgezeigt, wo Grenzen des Verhaltens sind. Nur sehr selten wird
ein aufdringliches oder unverschämtes Verhalten mit Schmerzen oder ernsthaften
Kämpfen abgebrochen. Unerwünschtes Verhalten wird in den meisten Fällen dadurch
unterbunden, dass nicht darauf eingegangen wird – dass es keinerlei Erfolg hat.
Übertragen auf die Hundeerziehung könnte man sagen, dass man einen Hund, der
bettelt um etwas zu erreichen oder zu bekommen, einfach nicht das gewünschte
Ziel erreichen lässt. Also einfach nichts geben, wenn er unverschämt am Tisch
bettelt. Wird er doch zu aufdringlich, kann man ihn durchaus auch mal
wegschieben und kurz und klar sagen, dass man das nicht möchte. Damit ist die
Grenze in dem sozialen Kontext gesetzt.
Grenzen nur
im direkten sozialen Kontext
Also, Grenzen werden im sozialen Grundrepertoire
des Hundes nur im direkten sozialen Kontext gesetzt. Rangordnungs- und
Statusverhalten ist bei Hunden eigentlich eher als untergeordnet anzusehen. Wir
sollten deshalb von Grenzen setzen auch nur im direkten sozialen Kontext
sprechen – wenn Hunde eben im sozialen Umgang mit uns über ein Ziel
hinausschießen. Aber das ist im Allgemeinen recht selten und kann dadurch
eingegrenzt werden, indem der Hund schlicht nichts dadurch erreicht. Man kann
auch mal deutlich „nein“ sagen, oder dem Hund ein Alternativverhalten (z. B.
„Sitz“) antrainieren, dass er auf Signal zeigen kann und das dann belohnt wird.
So lernt er, dass sich ein anderes Verhalten als das vorher gezeigte
„unerwünschte Verhalten“ eher lohnt…
Da Grenzen setzen also nur ein relativ selten
gezeigtes Sozialverhalten von Hunden ist, sollten wir Menschen auch nicht unser
Zusammenleben mit dem Hund durch übertriebenes „Grenzen setzen“ belasten. Das
widerspricht dem angeborenen Sozialverhalten von Hunden. Wenn wir gegen das
natürliche Verhalten von Hunden arbeiten, alles verbieten und begrenzen, dann
frustriert das den Hund und stresst ihn. Und dauerhafter Stress ist einer der
Hauptgründe für unerwünschtes Verhalten (größere Aggressionsbereitschaft,
niedrige Toleranzschwellen etc.). Übrigens: Nur ein ausgeglichener Hund, ein
Hund der genügend ausgleichende Hormone gegen Stresshormone bilden kann, kann
auch ein ausgeglichenes Verhalten zeigen.
Um
ausgeglichen zu sein braucht ein Hund Freiheiten
Wichtig für einen ausgeglichenen Hormonhaushalt
sind auch Freiheiten, die man dem Hund gewähren sollte. Hunde sollten sich
aussuchen dürfen, wo sie in der Wohnung liegen, wo sie sich aufhalten. Dann
sollten sie manchmal auch selbstständig Aufgaben lösen dürfen (z. B. Nahrung
suchen, erschnüffeln, zerlegen) und allein Gärten oder eingezäunte Grundstücke
erkunden, ohne dass der Besitzer ständig hinter dem Hund steht. Nur so lernt
der Hund, ausgeglichen zu sein und auch mit Situationen umzugehen, die ihm
fremd sind. Wenn man einem Hund also Freiheiten erlaubt, einige wenige Grenzen freundlich
im direkten sozialen Kontext setzt und alltägliche „Signale“ (z. B. für einen
Rückruf oder ein Ersatzverhalten wie „Sitz“) einübt, reicht das im Allgemeinen
für ein harmonisches Leben mit einem Hund (siehe Tipps). Natürlich muss man das
immer individuell sehen, die Vergangenheit eines Lebewesens spielt in sein
Verhalten mit hinein, zudem gibt es Unterschiede zwischen den Rassen etc.
Grundlegend kann man aber sagen, dass man mit einer gesunden Mischung aus
Grenzen und Freiheiten die wenigsten Probleme mit Hunden bekommt. Denken Sie
also immer daran, wenn Sie mit Hunden umgehen. Hunde sind sozial sehr
anpassungsfähig, sie streben nicht nach Aufstieg in imaginären Rangordnungen
mit dem Menschen und werden auch nicht gefährlich, wenn man sie nicht ständig
unterdrückt. Im Gegenteil, Frust, Stress und daraus resultierendes,
unerwünschtes Verhalten lassen sich am besten dadurch vermeiden, wenn man das
natürliche Leben von Hunden, so gut es in unserer Umwelt geht, berücksichtigt
und simuliert. Hunde sind im Grunde anpassungsfähige, freundliche Lebewesen,
die einem Konflikt lieber aus dem Weg gehen. Wenn wir ihnen die Möglichkeit
dazu geben und sie nicht in irgendwelche Konfliktsituationen hineinzwingen, die
ihrem eigentlichen Naturell nicht entsprechen.
TIPPS:
Strukturiertes,
sicheres Leben:
Wichtiger als Grenzen setzen sind klare Strukturen
im Hundeleben
-
Geregelter Tagesablauf mit regelmäßigen
Gassizeiten, Streicheleinheiten, Fütterungszeiten, Ruhephasen,
Beschäftigungszeiten. Das schafft Routine und somit Sicherheit, was einen Hund
entspannt. Und Entspannung verhindert Stress, Frust und Aggressionen.
-
Ruhe und Gelassenheit im Umfeld des Hundes.
Keine dauernden Streitereien der Menschen untereinander, Rückzugsmöglichkeiten
um sich vor spielenden Kindern „in Sicherheit“ bringen zu können. Hund nicht
ständig menschlicher Hektik aussetzen.
Freiheiten:
-
Gönnen Sie dem Hund freie Liegeplatzwahl an
verschiedenen Plätzen in der Wohnung
-
Beim Gassigang muss der Hund überall so lange
und so oft schnüffeln und markieren können, wie er möchte
-
Optimal ist ein großer Garten, in dem der Hund
mal Zeit ohne Menschen verbringt – dort Gerüche von fremden Katzen und Vöglen
erkunden kann, auch mal wachen kann etc. Wer keinen Garten hat, kann vielleicht
mal bei Bekannten fragen, ob der Hund ab und an deren Garten erkunden darf oder
man sucht sich andere, eingezäunte, sichere Gelände, die der Hund mal frei
erkunden darf (natürlich soll der Mensch in der Nähe bleiben, aber nicht
dauerhaft nah beim Hund)
-
Regelmäßig Kauspielzeug (Pappkisten mit
Leckerchen, Kong etc.) bearbeiten und zerlegen lassen
-
Suchspiele durchführen („Nasenarbeit“)
-
Usw.
Denken sie immer daran, nur wenn ein Hund manchmal
freie Entscheidungen treffen darf, entwickelt sich sein Gehirn normal, nur dann
bildet sein Körper genügend Hormone, die Stresshormonen entgegenwirken und ihn
zu einem ausgeglichenen Lebewesen machen. Und ein ausgeglichener Hund zeigt
sehr viel seltener unerwünschtes Verhalten, als ein dauerhaft gestresster und
frustrierter Hund.