Wenn der traumatisierte Hund endlich stört
Der Hund, den meine Kunden aus dem Tierschutz übernommen
hatten, hatte eine furchtbare Vergangenheit. Er war in einem Rudel gehalten
worden und dort der Prügelknabe für die anderen Hunde. Das hatte übrigens
nichts mit irgendwelchen Rangordnungen zu tun, die in „Rudelhaltung“ angeblich automatisch
vorkommen. Und einer eben das „Omegatier“ sein muss. Nein, das hatte damit zu
tun, dass die Tiere dort auf engstem Raum gehalten wurden, keine
Ausweichmöglichkeiten voneinander hatten und sich gegenseitig auf die Nerven
gingen. Als reine Beschäftigung und zur Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins
bilden sich bei solchen Haltungsbedingungen oft Grüppchen, die einzelne,
schwache und wehrlose Tiere tyrannisieren. Wie gesagt, dass liegt an einer zu
engen Haltung von vielen Hunden, die sich mit nichts anderem als dem sozialen
Geplänkel beschäftigen können. Und die ihr eigenes Selbstbewusstsein aufpolieren,
indem sie ihre gesamte Energie gegen andere richten. Weil ihnen andere, das
Selbstbewusstsein fördernde Beschäftigungen verwehrt bleiben. So etwas habe ich
übrigens nur bei „gefangenen“ Hundegruppen beobachten können. Frei und selbstbestimmt
lebende Hunde gehen so nicht miteinander um. Eben weil sie Freiräume haben,
sich aus dem Weg gehen können und auch sporadische Gruppenbildungen jederzeit
verlassen können.
Keine Möglichkeit der Gegenwehr
Diese Möglichkeit hatte mein Kundenhund nicht. Er wurde über
Monate von den anderen Hunden, mit denen er auf engem Raum leben musste, böse
zusammengebissen. Das hatte nichts mit „das machen die unter sich aus“ zu tun.
Diese Haltung war schlichte Tierquälerei und der Hund wurde durch die ständige
Unterdrückung und die Bisse der anderen Hunde traumatisiert. Er war nicht in
der Lage sich zu wehren, konnte keine Strategien mehr zur Problemlösung
entwickeln. Er wurde handlungsunfähig und ergab sich in sein Schicksal.
Unfähig selbstständig zu handeln
Das Trauma wirkte soweit nach, dass der Hund bei seinen
späteren Besitzern bei jeder Begegnung mit einem Hund einfror, sich nicht mehr
bewegen konnte, in jeder Form handlungsunfähig war.
Neues Selbstbewusstsein
Mit dem Aufbau von Selbstvertrauen über geeignete
Beschäftigung mit Erfolgserlebnissen, mit Entspannungsprogrammen und dem
etablieren eines hundgerechten Alltags und Umfelds, konnten wir nach vielen
Wochen diese Handlungsunfähigkeit durchbrechen. Es war ein tolles Gefühl, als
der Hund endlich bei einer Hundebegegnung den anderen Hund anbellte. Als er
endlich wieder handlungsfähig war, eine Strategie hatte dem möglichen „Feind“
mitzuteilen, dass er nicht willenlos sei. Ich habe mich selten so über einen
Hund gefreut, der einen anderen anbellt.
Endlich handlungsfähig = unerzogen?
Aber genau in dem Moment, als der Hund zum ersten Mal
selbstständig handelnd einen anderen Hund anbellte, ließen vorbeigehende
Passanten ihre Kommentare ab. Irgendwas von unerzogen, „nicht benehmen können“
etc. hörte ich da. Menschen sind immer mit schnellen, pauschalen Urteilen bei
der Hand, wenn sie Hundeverhalten beurteilen. Bellen darf ein Hund nur auf
Kommando – macht er es vermeintlich unerwünscht, benimmt er sich nicht, ist
unerzogen etc. Dabei gibt es so viele Gründe für das Verhalten eines Hundes.
Pauschale, mit simpelsten Vorurteilen behaftete Verhaltenseinschätzungen sind
da fehl am Platze. Ob vom Passanten, Hundehalter oder auch Hundeprofi. Beim
Profi sogar noch mehr. Hundeprofis, die pauschal von „nicht benehmen können“,
„Grenzen setzen“ oder „mangelnder Führung“ reden, sind mir noch suspekter, bzw.
unsympathischer als normale Passanten. Denn ein Profi sollte zumindest die
Möglichkeit in Betracht ziehen, dass nicht jeder bellende Hund pauschal unerzogen
ist. Und vielleicht eine Geschichte hat…
Raus aus dem Schneckenhaus
Aber zurück zum traumatisierten Hund, bei dem ich froh war,
dass er sich von seinem Schneckenhaus verabschiedete und wieder handlungsfähig
wurde. Ja klar, ich höre schon wieder die Zweifler, die als Bedenkenträger die
Befürchtung äußern, dass der Hund, nachdem er gelernt hatte wieder
selbstständig zu handeln und sich durch bellen Hunde vom Hals halten zu können,
sich nun zum Pöbler entwickeln könne. Nun, einmal davon abgesehen, dass die
Gefahr geringer ist, als man glauben mag. Nicht alles, was ein Hund macht,
nimmt überhand, wenn wir Menschen es nicht „in Grenzen“ halten. Wenn man
trotzdem Anzeichen erkennt, dass der Hund die neu erworbene Handlungsfähigkeit
übertreibt, kann man durch gezieltes Training das Verhalten z. B. umleiten. Das
ist an dieser Stelle aber nicht das Thema. Wichtiger ist, dass man Hundeverhalten
nicht pauschal beurteilt und auch Faktoren bedenkt, die einem nicht immer
direkt in den Sinn kommen.
Endlich stört der Hund
Ein traumatisierter Hund ist vielleicht ruhig und „stört“
nicht. Aber bei allem was man über Traumata bei Säugetieren im Allgemeinen
weiß, ist sein Allgemeinbefinden nicht gut. Er fühlt sich bescheiden.
Ich freue mich dann immer, wenn er nicht mehr ruhig ist und endlich
stört. Dann fühlt er sich nämlich besser. Und das zählt für mich mehr als
pauschal quatschende Passanten…