Gastartikel: Führt Kontrollverlust bei Hunden zu Kontrollzwang?
Heute möchte ich Ihnen einmal einen sehr
lesenswerten Gastartikel von Ute Rott präsentieren. Er ist zwar etwas länger,
aber es lohnt sich, ihn bis zum Ende zu lesen – versprochen J
Führt
Kontrollverlust bei Hunden zu Kontrollzwang?
Kontrolle ist etwas, das
jedes Lebenwesen braucht, um überleben zu können. Von klein auf lehren wir
unsere Kinder viele Dinge genau zu kontrollieren, damit sie heil durchs Leben
kommen Zum Beispiel ist es ganz klar, daß man nur über eine befahrene Straße
geht, wenn dies gefahrlos möglich ist. Ebenso steckt man nicht einfach alles in
den Mund, es könnte ja giftig sein. Messer und Scheren werden Kindern erst dann
anvertraut, wenn die Eltern sicher sind, daß sie vernünftig damit umgehen und
auch dann bleiben sie dabei und kontrollieren, daß nichts passiert. Auch
Vorsicht gegenüber Fremden - in vernünftigem Ausmaß - sollen Kinder lernen und
nicht mit jedem mitlaufen, der Gummibärchen dabei hat.
Menschen kontrollieren ihre
Umgebung ständig, ohne sich dessen bewußt zu sein. Wenn wir in eine neue
Umgebung kommen, bleiben wir erstmal stehen und werfen einen Blick in die
Runde. Nur wenn wir sicher sind, daß alles ok ist, gehen wir weiter und
betreten das Haus, den Raum, den Platz. Allein in eine fremde Stadt oder ein
fremdes Land zu fahren, ist für uns nie besonders angenehm, besser wäre es, es
ist jemand dabei, der sich auskennt. Einen guten Autofahrer macht aus, daß er
regelmäßig in den Spiegeln den Verkehr überprüft, um so die Kontrolle zu
behalten.
Warum ist das so? Sind wir
alle Kontrollfanatiker, die dringend mal in Therapie müßten? Solange sich das
in Grenzen hält wie oben beschrieben und es sich um einfache, größtenteils
unbewußt ablaufende Aktionen handelt, ist es das sicher nicht mehr und nicht
weniger als die notwendige, teilweise sogar überlebensnotwendige Überprüfung
meiner Umwelt. Wer zu einer vernünftigen Kontrolle seiner Umwelt nicht in der
Lage ist und viel zu sorglos durchs Leben wandert, muß schon ein großes
Glückskind sein, um zu überleben, denn wer auf der Autobahn spazierengeht,
jedem Menschen vertraut, der etwas von ihm will, Alkohol und Drogen in Unmengen
konsumiert, ohne an die Folgen zu denken, der wird früher oder später durch
seinen Leichtsinn geschädigt werden. Wir müssen also lernen, mit den Gefahren,
die auf der Welt vorhanden sind, umzugehen und sie zu kontrollieren, dann kann
man auch mal ein, zwei Glas Wein trinken, ohne gleich Leberzirrhose zu
bekommen, man kann Straßen überqueren, ohne überfahren zu werden, und man
lernt, Menschen richtig einzuschätzen. Alle Erfahrungen, die wir machen, egal
ob gute oder schlechte, bereichern unser Leben und bringen uns vorwärts.
In ihrem sehr lesenswerten
Buch "Wer denken will, muß fühlen." geht Elisabeth Beck auf das
Grundbedürfnismodell von Epstein / Grawe ein. Die wichtigsten Grundbedürfnisse
sind demnach
- Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
- Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
- Lustgewinn /
Unlustvermeidung
- Bindungsbedürfnis
-Selbstwerterhöhung.
Der Psychologe Seymor Epstein
hat sich Anfang der 1990er Jahre mit der Frage beschäftigt, ob es für Menschen
auch psychische Grundbedürfnisse gibt, Klaus Grawe hat Anfang der 2000er Jahre
in Anlehnung an diese Erkenntnisse die o.gen. Grundbedürfnisse als Modell
entwickelt. Elisabeth Beck schreibt dazu (S. 78) : "Alle Grundlagen dieses
Modells wurden jedoch an Tieren fast noch intensiver erforscht als an Menschen
- höchste Zeit also, es auch zum Nutzen der Tiere einzusetzen".
Um in schwierigen Situationen
handlungsfähig zu bleiben, muß ein Lebewesen - egal ob Tier oder Mensch - eine
gewisse Kontrolle behalten können. Denn gerade in schwierigen Momenten des
Lebens kann es das Leben kosten, wenn man den Notausgang nicht kennt. Die
Tatsache: "ich bin hier zwar fremd, aber ich habe mein Handy dabei und
kann im Notfall meine Freunde anrufen, damit sie mich abholen" reicht als
Kontrolle in der Regel aus.
Wie verhält sich das jetzt
mit Hunden? Oft genug hört man von Hunden, die ständig ihre Menschen
kontrollieren, sie keinen Moment aus den Augen lassen, immer dabei sein müssen,
niemanden an sie hinlassen, teilweise nicht mal den Partner oder die Kinder.
Ist das normal? Sind diese Hunde krank? Warum machen das einige und andere
nicht? Es lohnt sich, dem nachzugehen und dieses Problem zu untersuchen, da die
Ursachen zum großen Teil darin begründet liegen, wie heutzutage Hunde
"erzogen" werden.
Hunde sind sehr neugierige
Tiere, wie Menschen auch, nur wird ihnen das häufig negativ ausgelegt Ich nenne
dieses Verhalten deshalb lieber "Erkundungsfreude". Damit wird es
positiv belegt und es trifft auch besser den Kern. Die meisten Hunde in meiner
Hundeschule kommen freudig auf den Platz und müssen dringend erkunden, was seit
dem letzten Mal hier passiert ist. Wer war da? Hat jemand Leckerchen vergessen?
Steht das Plantschbecken rum? Und diese Erkundungsrunde macht Spaß. Hunde, die
das nicht machen, sind immer Hunde, denen verboten wurde, von sich aus etwas zu
erkunden. Sie machen einen verunsicherten Eindruck, wirken oft scheu und
ängstlich, und haben nicht wirklich viel Spaß am Leben, keine Freude daran,
etwas zu erkunden, keine Neugier, also keine "Gier auf Neues".
Nehmen wir an, ein Mensch
kommt mit seinem Hund in einen großen Raum, der beiden fremd ist. Der Mensch
bleibt am Eingang stehen und wirft einen Blick in die Runde. Vielleicht sieht
er jemanden, den er kennt und geht sofort zu ihm hin. Der Blick in die Runde
hat ihm genügt, um sein Kontrollbedürfnis zu befriedigen. Der Bekannte ist
obendrein ein "Beleg" für die friedliche Situation, er kann also ohne
weiteres hingehen und sich dazusetzen. Für den Hund sieht das ganz anders aus.
Hunde erfassen zwar ebenso wie wir neue Situationen und Umgebungen mit allen
Sinnen, den gründlichsten Aufschluss geben ihnen aber nicht die Augen sondern
die Nase. Und deshalb reicht es ihnen nicht, wenn sie sich umsehen. Sie müssen
den Raum mit der Nase erkunden. Üblicherweise ist das aber nicht erlaubt, denn
aus welchem Grund auch immer denken Menschen nicht freundlich über Hundenasen,
die auf Erkundung sind. Könnte es nicht sein, der Hund pinkelt irgendwo hin,
wenn er was interessantes riecht? Könnte es nicht sein, er belästigt jemanden?
Oder jemand fürchtet sich vor Hunden. Und überhaupt sind die meisten Menschen
der Meinung, es reicht, wenn der Mensch weiß, was er tut, der Hund hat ihm
blind zu vertrauen.
Ach, wirklich? Als sozial
hochentwickelte Landraubtiere haben Hunde wie Menschen ein sehr starkes
Bedürfnis, ihre Umgebung daraufhin zu kontrollieren, ob sie ungefährlich ist,
Beute oder Feinde verbirgt, man sich hier wohlfühlen kann oder sich lieber
entfernt, sie haben also das gleiche Streben nach Lustgewinn, bzw.
Unlustvermeidung wie Menschen. Wie kann aber ein Mensch, der sich mit seinem
Hauptsinn "Sehvermögen" überwiegend orientiert und zum Teil ganz
andere Bedürfnisse und Vorstellungen von einem angenehmen Leben hat wie ein
Hund, verlangen, daß sein Hund ihm immer und unter allen Umständen vertraut,
wenn er ihm nicht mal ein wichtiges Bedürfnis, nämlich das nach Orientierung
und Kontrolle zugesteht? Der Mensch in unserem Beispiel vertraut seinem Hund in
keinster Weise, sonst käme er ja nicht auf die Idee, sein Hund könnte
rumpinkeln, anderer belästigen oder in Angst versetzen.
Viele Hundebesitzer und
Hundetrainer glauben, daß sie sehr wohl in der Lage sind, hundliche Bedürfnisse
richtig einzuschätzen und diesen auch gerecht zu werden. Das stimmt in vielen
Fällen sogar, aber spätestens bei folgenden Fragen hört es für die meisten auf:
darf ein Hund sich paaren und wenn ja mit wem? Wann und wie oft bekommt er was
zu fressen? Darf er einfach so durch die Gegend laufen, und das auch noch wann
und so lange es ihm gefällt? Darf Hund sich in Aas oder Exkrementen wälzen und
dann im Wohnzimmer auf die Couch hopsen, um ein Nickerchen zu nehmen? Es gäbe
noch viele andere Punkte, bei denen sich Mensch und Hund nicht unbedingt einig
sind, aber Menschen bestehen darauf, alles so zu machen und zu kontrollieren
(!), daß es ihren Vorstellungen gerecht wird.
Damit hier keine
Missverständnisse entstehen: ich bin durchaus der Meinung, daß Hunde zwar
soviel Freilauf wie möglich haben sollten, aber auch hier in der
uckermärkischen Einsamkeit öffnen wir nicht einfach die Tür und schicken die
Hunde hinaus. Ebenso gibt es ein von den Hunden durchaus unerwünschtes
Duschbad, falls sie sich mal wieder mit Waschbärkacke parfümiert haben. Aber
wenn unsere Hunde der Meinung sind, daß wir nicht umkehren, bevor wir den See
erreicht haben, weil es nämlich wieder mal hoch an der Zeit für ein schönes Bad
ist, dann lassen wir uns schon mal überreden. Und wer kontrolliert dann wen?
Ich ganz sicher nicht meine Hunde. Dafür komme ich zu einem nicht eingeplanten
Bad und die Hunde hatten mit ihrer Entscheidung natürlich recht.
Wer seinen Hund allerdings
dazu erzieht immer und unter allen Umständen die Kontrolle abzugeben und alle
Entscheidungen seinem Menschen zu überlassen, der muß mit üblen Folgen rechnen.
Eine dieser Folgen kann Trennungsangst sein. Denn wer nie für sich selber
sorgen und entscheiden darf, gerät natürlich leicht in Panik, wenn die Person
verschwindet, die das für ihn erledigt. Und ist es nicht nachvollziehbar und
logisch, daß ich permanent aufpassen muß, daß mir dieser Mensch ja nicht aus
den Augen kommt? Was tue ich, wenn er weg ist? Wer passt dann auf mich auf? Wer
trifft dann die Entscheidungen für mich? Wer kümmert sich, wenn ich in Gefahr
bin? Ein Hund, der nichts entscheiden darf, der nie selber etwas erkunden darf,
der aus Erkundungen nichts lernen kann, dem alles abgenommen wird, der immer
und überall - in der Regel durch Kommandos - unselbständig sein muß, wird dann
ausschließlich und immer das kontrollieren, was ihm noch bleibt: den Menschen,
der ihm die Kontrolle über seine Umwelt abgenommen hat.
Es gibt verschiedene Gründe,
warum Menschen ihren Hunden so etwas antun. Einer ist sicher übertriebene
Fürsorglichkeit. Der Hund einer Bekannten durfte sich nicht mal selber kratzen:
"das macht Frauchen doch für dich". Ja, und was ist, wenn sie nicht
da ist? Ein anderer ist ein übertriebenes menschliches Kontrollbedürfnis, das
leider durch viele Trainer auch noch gefüttert wird: wenn du deinen Hund nicht
immer im Griff hast (sprich 100%ige Kontrolle), dann...." und es folgen
die schlimmsten Szenarien von gebissenen Kindern, über Hundebeissereien,
angeblichen Rangordnungsprobleme bis zu durch den Hund verursachten
Autounfällen und was dergleichen Unfug mehr ist. Wenn von Hunden so eine
permanente Gefahr ausginge, die man nur durch 100% Kontrolle in den Griff
kriegen kann, dann sollte man sich schon fragen, wie das eigentlich seit Tausenden
von Jahren mit Hunden und Menschen gut gehen kann. Glaubt irgendjemand
ernsthaft, daß 100%ige Kontrolle eines anderen Lebewesens tatsächlich möglich
ist? Wir sind ja kaum in der Lage unsere Computer und andere Technik, also von
uns selbst erzeugte und programmierte Gegenstände zu kontrollieren. Wie soll
das dann bei einem denkenden und fühlenden, intelligenten Lebewesen möglich
sein? Und weil wir das wissen, fangen Menschen an, die Hunde unglaublich unter
Druck zu setzen, damit der gar nicht erst auf die Idee kommt, eigene Gedanken
und Ideen zu entwickeln. So muß der Hund beispielsweise immer und permanent
"Platz" machen, wenn man irgendwo im Restaurant sitzt. Wehe, er steht
auf, dann geht sofort die Welt unter. Oder er muß beim Spaziergang immer an der
Leine laufen und da natürlich "bei Fuß". Nur ab und zu wird ihm
erlaubt, zu schnüffeln, zu pinkeln oder zu kacken. Der Hund ist also vollkommen
dem Willen und den Entscheidungen seines Menschen ausgeliefert und bewegt sich
nur noch als Marionette durchs Leben.
Zum Abschluss eine
hoffentlich abschreckende Anekdote: Ich hatte auf einer Hundeveranstaltung in
Berlin einen Stand und verkaufte dort auch Zubehör, unter anderem
Holzspielzeug. Mutter und Tochter mit einer sehr netten, aber auch sehr
schüchternen Staffhündin kamen vorbei und interessierten sich dafür. Für solche
Fälle habe ich immer meine eigenen Spielsachen dabei, damit man das einfach mal
testen kann. Die Hündin ging - große Überraschung - voller Interesse mit der
Nase hin, sie wurde aber sofort am Halsband mit einem sicher schmerzhaften Ruck
zurückgezogen mit der unfreundlichen Bemerkung "pass auf!" Ja, was
hatte sie wohl gerade gemacht? Sie setzte sich
steif und starr hin, sah nur noch gerade aus und man konnte regelrecht
sehen, wie sie dachte: nur nix falsch machen und durchhalten, alles geht
vorüber. Glauben Sie ernsthaft, daß die beiden Frauen und ihre Hündin an dem
Spielzeug Spaß hatten? Daß sie ihrem netten, verschüchterten Mädchen
begreiflich machen konnten, daß das hier "Spiel und Spaß" bedeutet?
Wohl kaum.
In diesem Sinne: Wenn ich
meinen Hund Hund sein lassen möchte, bedeutet das auch, daß ich ihm sein
Bedürfnis nach Kontrolle zugestehe. Egal ob es sich um Holzspielzeug oder die
Hinterlassenschaft des Nachbarhundes dauert, Hunde kontrollieren bevorzugt mit
der Nase und darin sind sie uns gnadenlos überlegen. Kontrolle behalten heißt
auch, daß mein Hund mal sagt: das mach ich nicht. Und ganz ehrlich: meistens
haben die Hunde mit solchen Entscheidungen Recht.
Ute Rott