Können Empathie und Respekt Beißunfälle verhindern?
Wenn ein Mensch von einem Hund gebissen oder gezwickt wurde, hört man sehr
häufig folgende Aussage: „Ich wollte ihn doch nur streicheln, da hat er aus
heiterem Himmel zugebissen…“
Möchten Sie von einem
Fremden angefasst werden?
Nun, die Version mit dem heiteren Himmel trifft hier in den seltensten
Fällen zu, fragt man beim Hundehalter weiter energisch nach, kommen immer mehr
Details zum Vorschein, warum der Hund so reagiert hat. Um das zu verdeutlichen
möchte ich Ihnen ein kleines Beispiel konstruieren. Stellen Sie sich vor, sie
sitzen an einem schönen Sommertag draußen in einem Straßencafé, direkt an einer
belebten Einkaufsstraße. Plötzlich kommt ein Mensch mit ausgestrecktem Arm auf
Sie zu, wuschelt Ihr Haar kräftig durch und redet in einer Sprache, die Sie
nicht kennen, unaufhörlich auf Sie ein. Wie reagieren Sie? Natürlich, sie
werden dem Menschen verbal mitteilen, dass er das zu unterlassen hat. Aber der
hört einfach nicht auf und wuschelt noch kräftiger an Ihnen herum. Sie erhöhen
die Intensität Ihres verbalen Protests und stoßen den Menschen weg, als er
immer noch nicht mit der Unverschämtheit aufhört. Eine völlig normale Reaktion
von Ihnen und kein Mensch würde auf die Idee kommen, ihr Verhalten als falsch
anzusehen. Nein, das Verhalten des Menschen, der Sie belästigt und bedrängt
hat, das Verhalten würde als falsch angesehen.
Muss das Lebewesen
Hund alles ertragen?
Und jetzt stellen Sie sich die gleiche Situation vor, nur ersetzen Sie sich
selbst gedanklich durch einen Hund. Der sitzt oder liegt friedlich irgendwo,
wahrscheinlich direkt neben seinem Besitzer. Auch er wird von einem Menschen
mit ausgestrecktem Arm belästigt. Nun fühlt sich der Hund nicht nur belästigt,
wahrscheinlich fühlt er sich auch bedroht. Auch er versucht verbal oder
körpersprachlich dem Fremden mitzuteilen, dass er diese Berührungen nicht
möchte oder sich sogar bedroht dadurch fühlt. Er entblößt etwas seine Zähne,
einfach um zu zeigen dass er sich wehren kann – er brummelt und knurrt, wird
aber weiterhin vom Fremden belästigt. Irgendwann reicht es ihm, er schnappt
kurz zu, als letztes Mittel, weil kein anderes Zeichen von ihm ernst genommen
wurde. Praktisch die gleiche Situation und Reaktion, wie vorher bei der
Situation unter Menschen. Nur jetzt hat niemand Verständnis – nein der Hund
wird ausgeschimpft oder „gemaßregelt“.
Hunde müssen sich
gefallen lassen, was Menschen sich von Menschen nicht gefallen lassen würden
Ein Hund muss einfach
„funktionieren“, er muss sich menschliche Unverschämtheiten gefallen lassen,
die sich ein Mensch von einem anderen Menschen oder auch von einem Hund nicht
gefallen lassen würde. Und bevor einem Hund der „Kragen platzt“ versucht er
immer zu kommunizieren, wie vorher beschrieben. Er beißt, schnappt oder zwickt
nicht zu weil er böse ist, er macht dies auch nicht grundlos aus „heiterem“
Himmel – er fühlt sich belästigt, bedrängt und bedroht. Darum wehrt er sich.
Das Problem ist, dass die Menschen anscheinend immer mehr die natürliche
Fähigkeit verlernen, andere Lebewesen zu verstehen. Darum ist es nach meiner
persönlichen Meinung sehr wichtig, den Menschen wieder etwas von der
Natürlichkeit im Umgang mit Hunden zu vermitteln. Diese Natürlichkeit und ein
größeres Wissen über das Verhalten des Lebewesens Hund könnte sicher mehr
Beißunfälle verhindern, als alle Rasselisten oder Hundeverordnungen zusammen. Und
wenn man dann genug über Hundeverhalten weiß, kann man sicher den ein oder
anderen Hund streicheln, wenn dieser angezeigt hat, dass er sich nicht bedroht
fühlt.
Beißen „gut erzogene“ Hunde in solchen Situationen
nicht?
„Das ist alles eine
Frage der Erziehung“ ist in diesem Zusammenhang wohl mit Abstand die
unsinnigste Aussage, die man treffen kann. Für mich ist es eine
Selbstverständlichkeit, dass man ein fremdes Lebewesen nicht einfach anfasst,
ich möchte auch nicht von jedem angefasst werden. Natürlich muss man seinen
Hund auf diverse Situationen vorbereiten und entsprechendes Verhalten
trainieren oder ihn so sichern (z. B. Leine), dass er keine Menschen oder
andere Hunde belästigen kann. Aber man sollte von Menschen erwarten können,
dass sie mir und meinem Hund so viel Respekt entgegenbringen und nicht einfach
ein fremdes Lebewesen anfassen und bedrängen. Man kann nämlich noch so viele
Dinge trainieren, es gibt immer Situationen, wo das ganze Training nichts
nützt.
Dazu ein kleines Beispiel. Vor einiger Zeit beobachtete ich in einem
Café, wie ein Ehepaar mit seinem Hund, einem Tibet Terrier, hereinkam und sich
setzte. Der Hund war äußerst gut „erzogen“, also auf solche Situationen
vorbereitet. Er legte sich neben die Füße seiner Besitzerin und schaute die
Kellnerin freundlich an, als diese die Bestellungen aufnahm. Der Hund war die
Ruhe selbst, anscheinend mit den Geschehnissen in einem Café vertraut. Er war
so entspannt, dass er sich auf die Seite legte und einschlief.
Als der Hund in
den tiefsten Träumen lag, wollte eine junge Familie die Gaststätte verlassen.
Das Kind der Familie, ein kleines Mädchen, vielleicht 8 oder 9 Jahre alt,
erblickte beim Hinausgehen den Hund. Sie überlegte nicht, sprang auf das Tier
zu, landete laut auf den Knien und berührte „im Landeanflug“ den Rücken des
Hundes im Nierenbereich. Der Hund, der dank seines gesunden Schlafes nicht
mitbekommen hatte, was dort auf ihn zukam, sprang auf und schnappte unter
lautem Knurren in Richtung des Mädchens, ließ aber sofort ab, als er den
„Angreifer“ als Menschen identifizierte.
So unmöglich hier das Verhalten des
Mädchens schon war, noch unfassbarer war die Reaktion der Eltern. Die wollten
doch tatsächlich wissen, was ein so „bissiger, unerzogener“ Hund in einem Café
zu suchen hätte…
Ruhig, friedlich – aber erschrecken ist ein
Überlebensreflex
Dieser Hund war das
friedlichste Lebewesen, das man sich nur vorstellen kann, ausgeglichen und gut
trainiert, gut „erzogen“. Das Schnappen in Richtung des Mädchens war ein
Reflex, pure Panik und Angst vor dem „Angriff“, den er dank des Schlafes nicht
richtig einschätzen konnte. Hier von der Erziehung des Hundes zu sprechen, ist
geradezu absurd – ich würde hier mal die Erziehung des Mädchens in den
Vordergrund stellen.
Aber so bizarr die
Situation in der Gaststätte auch war, sie zeigt doch deutlich, wie unsinnig
eine pauschale Aussage über die „Erziehung“ des Hundes doch ist. Pauschal
sollte man nur die Aussage treffen, dass man einfach einen Hund nicht ungefragt
und unvorbereitet anfasst. Punkt. Man könnte natürlich auch alle Hunde zuhause
lassen, weil es so viele unerzogene Menschen gibt.
Mit Empathie (Fähigkeit
sich in andere Lebewesen hineinversetzen zu können) und Respekt ist das
Zusammenleben mit Hunden einfacher, als man es in Zeiten des obsessiven
Hundeerziehungswahnsinns glauben mag.