Das Rudel und die Rudelführer
Hundeartige unterscheiden sich in ihrem Sozialleben vielfach
grundlegend von den Menschen. Auf den ersten Blick kann man diese Unterschiede
nur schwer erkennen, wenn man jedoch einen zweiten Blick wagt, wird man
durchaus Unterschiede feststellen. Hierarchien bei Primaten (wie dem Menschen)
basieren häufig auf der Durchsetzungsfähigkeit einzelner Individuen und sind
ein charakteristisches Merkmal im Sozialverhalten. Vielfach nehmen die
stärksten Individuen, die sich auch im Kampf durchsetzen können, die höchsten
Rangstellungen ein. Durchsetzungsstarke Tiere beider Geschlechter haben die
meisten Nachkommen, weil sie sich auch den besten Zugang zu wichtigen
Ressourcen wie zum Beispiel Futter sichern können. Sozialer Aufstieg, Position
und Status sind wichtige Bestandteile der sozialen Grundstruktur von Affen und
Menschen – genauso wie die Tatsache, dass die Mitglieder einer Gruppe, einer
sozialen Gemeinschaft unter Primaten nicht zwingend miteinander verwandt sind.
Durch Ab- und Zuwanderung wird die genetische Vielfalt erhalten, die für den
Erhalt einer Art unerlässlich ist.
Mensch hat eine
andere Grundstruktur im sozialen Zusammenleben
Im Gegensatz zu vielen Primatengruppen, die von sozialem
Aufstieg und Machtansprüchen gekennzeichnet sind, verhalten sich Hundeartige
innerhalb ihrer sozialen Gefüge wesentlich weniger von diesen Strukturen geleitet
als mancher vermutet. Insbesondere das soziale Grundgerüst der Wölfe, den
alleinigen Vorfahren unserer Haushunde, unterscheidet sich deutlich von den
Primaten und somit auch vom Menschen, denn sie leben in der Regel in
überschaubaren Familienverbänden, die aus Elterntieren, Welpen und manchmal
Nachwuchs aus dem vergangenen Jahr bestehen. Die Tiere sind also eng
miteinander verwandt. Zwar gibt es gelegentlich auch Ausnahmen von dieser Regel
und es wandern fremde Wölfe in das Rudel ein oder es befinden sich in seltenen
Fällen zwei unterschiedliche Paare, die für Fortpflanzung sorgen, innerhalb der
Gruppe, aber das ist wirklich selten. Im Regelfall besteht ein Wolfsrudel nur
aus Eltern und unterschiedlich altem eigenen Nachwuchs.
Wolfrudel werden
immer von Eltern „geführt“ – erwachsener Nachwuchs wandert ab
Die Führung dieser Familien obliegt natürlich den
Elterntieren, der eigene Nachwuchs wird nicht versuchen, durch Kampf die
Position der Eltern einzunehmen und sich dann ggf. mit einem Teil von ihnen zu
verpaaren. Wenn die jungen Wölfe geschlechtsreif werden, verlassen sie meist die
Familie und suchen sich einen neuen Partner/ eine neue Partnerin, um dann ein
eigenes Rudel zu gründen. Der große Unterschied zu hierarchisch strukturierten
Menschengruppen besteht also darin, dass sich Wolfsrudel meist aus eng
miteinander verwandten Tieren zusammensetzen, deren Führung automatisch durch
die Eltern-Kind-Konstellation bedingt ist. Der früher in Bezug auf Hundeartige
falsch benutze Begriff „Alpha“ bezeichnet bei dieser Tierfamilie also nichts
weiter als die Elterntiere. Eine Führungsposition, die durch Kampf, Stärke und
Raffinesse erobert wurde, wie bei Menschen zum Beispiel im Berufsleben oder in
der Staatsführung üblich, gibt es im Grundmodell der wölfischen bzw. hündischen
Sozialstruktur im Normalfall nicht. Zwar bestehen Wolfseltern auch auf
Einhaltung gewisser Regeln innerhalb der Familie, die deren Überleben sichern
und sicher gibt es hier und da mal Auseinandersetzungen, wenn man sich nicht
einig ist, wem zum Beispiel eine Ressource wie Futter zusteht. Ein ständiger
Kampf und ein ständiges Sichern der „Alphaposition“ ist bei Wölfen aber nicht
zu beobachten.
Strenge Hierarchien
nur bei unnatürlicher Haltung im Gehege
Anders verhält es sich nur, wenn die normalen Regularien
durch menschliche Einflüsse außer Kraft gesetzt werden. Dies ist zum Beispiel
bei Gehegewölfen der Fall, die nicht unbedingt miteinander verwandt sind und
auf sehr begrenztem Raum zusammengesetzt, manchmal regelrecht zusammengepfercht
werden. Hier kann es tatsächlich zu (erheblichen) Spannungen und zu starren
hierarchischen Strukturen kommen – bedingt durch ein absolut unnatürliches
soziales Gefüge, wie es in freier Wildbahn niemals vorkommen würde und das
absolut nicht dem sozialen Grundmuster von Wölfen entspricht.
Haushunde sind keine
Wölfe mehr
Doch was ist nun mit unseren Haushunden? Durch die
Domestikation verändert, sind sie keine Wölfe mehr und manch einer glaubt, ihre
Lebensbedingungen seien durchaus mit der Haltung von Gehegewölfen zu
vergleichen. Könnte es deshalb nicht sein, dass sich bei ihnen eine soziale
Rangordnung ausbildet, die von Alphastatus, Machtstreben und Unterordnung
geprägt ist? Die Antwort ist ganz klar nein, denn man kann Haushunde auf keinen
Fall mit Gehegewölfen vergleichen – zumindest nicht, wenn sie in einem Umfeld
gehalten werden, welches von einem Mindestmaß an Verantwortung des Hundehalters
zeugt, denn Gehegewölfe leben den ganzen Tag in einem für mehrere Individuen
sehr begrenzten Raum und haben kaum die Gelegenheit, sich mit Außenreizen zu
beschäftigen.
Gehegewölfe streiten
aus Mangel an Beschäftigung und Reizen
Sie sind keinen Territoriumseindringlingen ausgesetzt, die
es zu verscheuchen oder deren Marken es wahrzunehmen und zu überdecken gilt. Es
gibt keine Feinde, mit denen sie sich auseinandersetzen müssten, sei es in Form
von Kampf, Flucht oder sogar friedlicher Co-Existenz. Es fehlt das große
Territorium, das täglich neu entdeckt werden muss, das man schützen und
erforschen muss und vor allem fehlt die lebenswichtige Aufgabe der
Nahrungsbeschaffung. Die einzig nennenswerte Variable, mit der sich ein Wolf in
Gehegehaltung beschäftigen kann, sind die „Mithäftlinge“. Um es platt
auszudrücken, beschäftigen sich Gehegewölfe aus Mangel an anderen Aufgaben
übermäßig mit dem sozialen Status, mit der Struktur des Rudels und so kommt es
hier zu starken Rangkämpfen und Auseinandersetzungen. Strukturen und soziale
Aspekte, die in der freien Wildbahn nicht vorkommen und auch bei der Haltung von
Haushunden nicht vorkommen sollten.
Haltung von
Haushunden sollte anders als Gehegehaltung von Wölfen sein
Haushunde sollten nicht nur damit beschäftigt sein, sich den
ganzen Tag auf engstem Territorium mit sozialen Strukturen zu beschäftigen. Sie
sollten, wie frei lebende Wölfe, diversen Aufgaben und Reizen ausgesetzt werden,
damit sie nicht aus Langeweile zu Tyrannen werden. Dass man mich nicht falsch
versteht – ich meine damit nicht, dass man Hunde, wie es heutzutage leider oft
üblich ist, den ganzen Tag bespaßt und ihnen keine Ruhe mehr gönnt. Aber Hunde
müssen raus, in ihrem Revier die Nachrichten lesen, die andere Hunde
hinterlassen, müssen diversen Reizen ausgesetzt sein und sich auch als
Jagdersatz körperlich austoben können. Wie das im Einzelnen aussieht, kommt auf
die Rasse und das Individuum an – wichtig ist aber, dass Hunde nicht so reizarm
leben wie Gehegewölfe und sich je nach Rasse über ihre Beschäftigung geistig
und körperlich auslasten und dadurch nicht ihre kognitiven Fähigkeiten allein
dazu nutzen, sich mit dem sozialen Status zu beschäftigen. Ein normal gehaltener
Hund, der in seiner Haltungsumwelt ausreichend viel Abwechslung hat, ist also
keinesfalls mit einem Gehegewolf zu vergleichen, der auf begrenztem Raum mit
seinen Artgenossen gelangweilt vor sich hin vegetiert.
Wolfsrudel sind Familien (c) Fotolia |
In diesem Zusammenhang möchte ich nicht unerwähnt lassen,
dass es einige Hundetrainer gibt, die behaupten, dass Hunde nicht raus müssten
und man sie auch nur auf dem Grundstück oder im Haus halten könne – teilweise
wird das von diesen Trainern sogar als „Disziplinierungsmaßnahme“ bezeichnet. Das
ist natürlich vollkommener Unfug – ein Hund braucht die Möglichkeit zum Erkunden um ein normales Verhalten zeigen
zu können. Wird er nur auf engem Raum gehalten oder gar in einem Zwinger, kann
er durch Stress, Langeweile und Verzweiflung Verhaltensweisen entwickeln,
die untypisch für seine Art sind.
Genauso, wie sich der Gehegewolf untypisch für seine Art verhält, wenn er
Rangordnungen all zu ernst nimmt.
Soziale
Grundorganisation vom Haushund eher mit wildlebenden Wölfe zu vergleichen
Das Verhalten von Hunden ist also durch den Umstand, dass
sie bei uns Menschen leben und durchaus in ihrem Bewegungsfreiraum
eingeschränkt sind und ihre Nahrung nicht selbst erjagen trotzdem nicht mit dem
Verhalten von in Gefangenschaft lebenden Wölfen zu vergleichen. Ihre sozialen
Grundstrukturen und Bedürfnisse ähneln, will man diesen Vergleich überhaupt
ziehen, eher dem Verhalten von frei lebenden Wölfen, die vielen Reizen,
Aufgabenstellungen und Beschäftigungen ausgesetzt sind. Und die sozialen
Grundstrukturen sind nicht auf einer totalitären, strengen Rangordnungen
aufgebaut, in der ein Individuum immer aufsteigen möchte. Obgleich es natürlich
Rangordnungen gibt. Diese sind aber bei weitem nicht so streng und absolut
ausgeprägt, wie die Verfechter der aversiven Hundeausbildung dies immer wieder
betonen – meist wohl eher als Rechtfertigung und Begründung, warum diese
Menschen ihre Gewaltphantasien oder sozialen Defizite an wehrlosen Hunden
auslassen…
Mensch als
Rudelführer?
Aus den vorgenannten Gründen sollte man die Aussage „Du
musst der Rudelführer sein“ sehr kritisch betrachten. Sicher sollte man
derjenige sein, der weitgehend die Regeln des täglichen Zusammenlebens
aufstellt, aber keinesfalls sollte man diese Rolle wie ein Diktator angehen,
der davon ausgeht, dass er nur durch Härte verhindern kann, dass ein anderer
seinen Platz einnimmt. Aufgrund seiner sozialen Grundstruktur möchte der Hund
dies nämlich auch gar nicht zwangsläufig. Ganz im Gegenteil ist er eigentlich
zufrieden, wenn er ein geruhsames Leben an der Seite seines Menschen führen
kann, der für Grundressourcen wie Futter und Sicherheit sorgt.
Mensch hat andere
soziale Grundordnung
Allerdings gibt es noch einen weiteren, sehr wichtigen
Grund, warum ich als Mensch nicht der „Rudelführer“ des Hundes sein kann. Ganz
einfach deshalb, weil ich kein Hund bin. Der Begriff „Rudel“ entstammt mit
hoher Wahrscheinlichkeit der Jägersprache und ist nicht näher definiert,
allerdings kann man ihn so weit eingrenzen, dass er von einer Gruppe von
Säugetieren ausgeht, die einer Art angehören. So beschreibt der Brockhaus in
einem Band den Begriff Rudel zum Beispiel als „eine Herde von Hirschen, Gämsen,
Rehen oder Wölfen“. Innerhalb der Hundeszene spricht man von einem Rudel, wenn
drei oder mehr verwandte Tiere dauerhaft zusammenleben, ähnlich dem Wolfsrudel
– wenn hingegen nicht miteinander verwandte Tiere dauerhaft zusammenleben oder
sich regelmäßig treffen (z. B. auf der Spielwiese) spricht man eher von einer
Gruppe. Aber letztlich sind das Wortklaubereien, wichtig nehmen sollte man nur
die Tatsache, dass ein echtes Rudel nur aus Individuen einer Art bestehen kann,
weil nur Lebewesen einer Art mit den gleichen sozialen Grundstrukturen
ausgestattet sind.
Quellen und weitere
Literatur zu dem Thema:
Hundeartige: Das Nachschlagewerk der Wild- und Haushunde von
Thomas Riepe von animal learn (1. August 2008)
Auf der Fährte der Wölfe von L. David Mech und Konrad
Dietzfelbinger von Frederking u. Thaler (Dezember 1999)
Der weisse Wolf. Mit einem Wolfsrudel unterwegs in der
Arktis von L. David Mech von Weltbild Verlag Augsburg (1995)
TheWolf The
Ecology and Behaviour of an Endangered Species by Mech, L.David ( Author ) ON
Apr-30-1981, Paperback... von L.David Mech von University of Minnesota Press
(30. April 1981)
Timberwolf Yukon & Co.: Elf Jahre Verhaltensbeobachtung
an freilaufenden Wölfen von Günther Bloch von Kynos (Oktober 2002)
Herz, Hirn, Hund: Expertenmeinungen zur modernen
Hundeerziehung von Thomas Riepe von animal learn (5. April 2012)
Aktuelle Informationen zu den Wölfen in Deutschland: www.wolfsregion-lausitz.de