Einfach nur sein – die verlorene Fähigkeit…

Als ich vor einiger Zeit in Tansania war, besuchte ich auch Stämme der Massai, einem halbnomadischen Volk von Hirten. Bei den Massai erledigen in den Siedlungen die Frauen so gut wie alle Aufgaben, vom Hüttenbau bis zur Nahrungszubereitung usw. Die Hauptaufgabe der Männer ist es, ihre Nutztiere, Rinder und Ziegen, tagsüber auf die Weidgründe und zu Wasserstellen zu führen. Viele Stunden sind die Massaimänner dabei oft mit sich, ihren Gedanken und den Tieren allein, weil sie auch nicht dicht beieinander stehen – um den bestmöglichen Überblick zu behalten. Immerhin sind die Weidegründe ihrer Rinder oft in oder in der Nähe von Nationalparks, wo durchaus auch mal das ein oder andere Raubtier vorbeischaut. Die Männer sind aber, wie sie mir mitteilten, dabei nicht zu 100% aufmerksam – sie reagieren eigentlich nur, wenn ihre Hunde reagieren. Die meiste Zeit des Tages sind diese Männer anscheinend wirklich mit sich allein, stehen oder sitzen auf einem Stein, um in die Gegend zu „gucken“. Was etwas mit aufpassen zu tun hat, aber wie gesagt, das echte Wachen übernehmen die Hunde, die aufgrund von besseren Sinnesleistungen diese Aufgabe auch leichter bewältigen können. Was nicht heißt, dass die Massaihunde in wachsamer Spannung auf den Löwen warten. Nein auch sie „gucken“ einfach so in die Gegend, aber ihre Sinne nehmen ungewöhnliche Geschehnisse schneller wahr – und sie können sehr schnell reagieren.

Langeweile?
Als Mitteleuropäer, der eigentlich nur noch in der Nacht und im Schlaf nicht mit irgendetwas beschäftigt ist, stellte sich mir bei den Massai eine Frage: „Was denken die, wenn die den ganzen Tag in sich versunken „nichts“ tun?“ Als ich einige Männer danach fragte (wodurch sie mich wohl auch für etwas verrückt hielten, normalerweise werden sie nur gefragt ob sie für einen Dollar „Fotomodell“ spielen), schauten sie mich verwundert an. Dann schauten sie sich selbst an, sagten irgendetwas auf Suaheli zueinander, zuckten mit den Schultern und einer, der englisch sprechen konnte, sagte: „Das weiß ich nicht – die anderen Männer auch nicht. Wir denken nicht darüber nach was wir beim Hüten denken…“
(c) Thomas Riepe
Diese Männer  wirkten auf mich nicht gelangweilt oder in irgendeiner Form unglücklich. Alle Menschen haben wohl von Natur aus die Fähigkeit, längere Zeit ohne Beschäftigung zu existieren und einfach nur „zu sein“. Vermutlich braucht der Mensch diese Fähigkeit auch als Sressausgleich und um Körper und Geist nicht dauerhaft zu belasten.
Verlorene Fähigkeit
Allerdings ist es uns in Mitteleuropa praktisch nicht mehr möglich, eine große Zeit des Tages „einfach nur zu sein“. Wir müssen einer Arbeit nachgehen usw. Und wenn wir frei haben, setzen wir uns selbst so unter Druck, dass wir immer irgendetwas machen. Wir können gar nicht mehr anders, fünf Minuten ohne Internet, TV oder auch aktive Beschäftigungen kommen uns wie eine Ewigkeit vor. Wir haben verlernt, einfach nur zu sein. Wohl auch ein Grund für viele „moderne“ Erkrankungen.
Fähigkeit bei Hunden erhalten
Hunde haben diese Fähigkeit auch. Sie können einfach so rumliegen, in die Gegend schauen. Sie können dösen oder schlafen. Auch sie brauchen das, um ihr Stresssystem zu regeln. Sie sind nicht für „Dauerbetrieb“ geschaffen, brauchen lange Phasen der körperlichen Entspannung, ohne große Aktionen. Wenn wir Menschen (in Europa) es schon nicht mehr schaffen, einfach nur „zu sein“, so sollten wir doch versuchen, unseren Hunden diese Ruhephasen zu gönnen. Damit sie die Fähigkeit nicht auch verlieren. Die Fähigkeit, einfach nur „zu sein“…

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