Vom Glück des angeleinten Hundes
In meinem inzwischen recht langen Berufsleben bei der Arbeit
mit Menschen und Hunden hat sich folgendes immer wieder bestätigt. Man sollte
nie pauschal denken, an keine Methoden glauben und sich vor allem in Hund UND
Mensch hineinversetzen können. Und mit Übersicht quer denken…
So war es z. B. bei einem Fall, der eigentlich schon einige
Jahre zurückliegt, der jedoch in meinen Augen sehr schön zeigt, was ich mit den
vorher gesagten Worten meine.
Hund kann sich
draußen nicht lösen
Eine Hundehalterin kontaktierte mich, weil ihr Hund sich auf
dem Gassigang nicht löste, sondern sein Geschäft immer nur daheim, in der
Wohnung erledigte. Also begleitete ich die Dame und ihren Hund, einen
Beaglemix, bei einem Spaziergang. Der Hund lief dabei frei, war jedoch sehr angespannt,
bewegte sich, mit recht aufrechtem und steifem Gang, ca. drei bis vier Meter
vor dem Frauchen.
Der Hund lief also ohne Leine. War vermeintlich im Freilauf.
Das Frauchen hatte den Hund gut trainiert, einen sicheren Rückruf mit der
Pfeife etabliert. So schilderte sie es mir zumindest. Und sie verachtete alles,
was mit Gewalt und Schreckreizen bei der Hundeausbildung zu tun hat. Sie hatte
den Rückruf, nach ihren Worten positiv aufgebaut – Pfeifen, Leckerchen. Bis der
Hund verstanden hatte, dass es ein Leckerchen gibt, wenn er zum Frauchen kommt.
So weit, so gut.
Angespannter Freilauf
Zurück zum Gassigang. Wie gesagt, lief der Hund einige Meter
vor seinem Frauchen, war aber auch sehr angespannt. Im Laufe des Spaziergangs,
war eines, neben dem angespannten Hund, sehr auffällig. Immer, wenn der Hund
etwas weiter voranlief, als den vom Frauchen geduldeten Abstand, nutzte sie den
Rückruf per Pfeife. Worauf der Hund auch direkt zurückkam, sich sein Leckerchen
abholte und dann wieder innerhalb des tolerierten Abstands vor Frauchen
herlief. Bis er wieder etwas zu weit war…
Das passierte nicht übermäßig häufig, der Hund hatte den
vermeintlich korrekten Abstand sehr gut im Gefühl. Aber während des ca. 30
minütigen Spaziergangs wurde er ca. 5 Mal zurückgerufen. Der Hund lief
vermeintlich frei, war aber ständig in der Anspannung, dass er zurückgerufen
werden würde und zum Frauchen laufen musste.
Signal anders
verknüpft als gewollt
Wie gesagt, im Grunde bin ich ein Freund des Rückrufs über
Pfeife. Aber auf eine gewisse Entfernung und auch nur selten benutzt – damit
sich das Signal nicht abnutzt und außerdem positiv belegt bleibt. In diesem
Fall, so nah beim Hund und sehr oft getätigt, war es ein Schreckreiz, ein
unangenehmes Abbruchsignal. Ein Signal, auf das der Hund ständig wartete, wenn
er ohne Leine lief. Die Anspannung wurde immer nur kurz unterbrochen, wenn der
Pfiff ertönte und er sich sein Leckerchen holte. Daraufhin begann direkt wieder
die Anspannung. Es war zwar von der Besitzerin gut gemeint, sie dachte, sie
hätte dem Hund gewaltfrei, positiv verstärkt, den „Freilauf“ beigebracht. In
Wahrheit aber war der Gassigang für den Hund eine stressreiche Geschichte unter
Daueranspannung. Und diese Art der dauerhaften Anspannung ist für den Körper
sehr anstrengend – und natürlich auch
für die Psyche. Ein weiterer Nebeneffekt ist in diesem Zustand der Anspannung,
dass das Verdauungssystem nicht „arbeitet“. Diese Anspannung ist von der Natur
eingerichtet, dass man sich verteidigen oder flüchten kann. Da kann sich das
System nicht auch noch um die Verdauung kümmern. Alles geht eben nicht…
Hund durch Unfall
verloren
Ein weiterer interessanter Fakt dieses Falles war, dass das
Frauchen vor einiger Zeit einen anderen Hund durch einen Unfall verloren hatte.
Der Hund war weggelaufen und überfahren worden. Vor den Augen das Frauchens,
welches ihn nicht zurückrufen konnte. Darum hatte sie den Freilauf mit dem
Beaglemix besonders geübt – bis zu dem Zustand, den ich bei meinem Besuch
vorfand. Hund durfte vier Meter vorlaufen. Und wurde bei kleinstem Verdacht von
zu viel Abstand zurückgepfiffen. Frauchen war ständig in Angst, dass der Hund
weglaufen könne und wieder etwas Schreckliches passieren würde. So marschierten
also ein hochgradig angespanntes Frauchen und ein hochgradig angespannter Hund
durch die Gegend.
Wie es die
Gesellschaft verlangt
Für Außenstehende sah im Grunde aber alles so aus, wie es
die Gesellschaft verlangt. Gut hörender Hund darf frei laufen und hört gut auf
Frauchen. Dabei gingen dort zwei höchst angespannte Lebewesen, eines in Angst,
dass der Hund weglaufen könne und etwas Schreckliches passiert. Und eines in
Angst davor, den unangenehmen Pfeifton um die Ohren gehauen zu bekommen, wenn
er nicht nah genug beim Frauchen war. Ein typischer Fall von Schein und Sein…
Unwohlsein beim Gassigang
Keiner fühlte sich beim Gassigang wohl. Deswegen änderte ich
diesen radikal. Der Hund wurde angeleint, um endlich frei zu sein. Denn sobald
er spürte, dass der Verschluss der Leine an seinem Geschirr befestigt wurde,
entspannte er sichtlich. Er wusste genau, dass kein Schreckreiz über die Pfeife
kommt, wenn er angeleint ist – und Frauchen war auch viel entspannter, weil sie
sich mit Leine sicher war, dass der Hund nicht weglaufen kann. Beide waren
blitzartig entspannt, der stress wie weggeblasen und der der schädliche
Dauerstress war nicht mehr zu spüren.
Lange Leine statt
Unwohlsein
Seit dem Zeitpunkt wird der Hund beim normalen Spaziergang,
mehrmals täglich, mit einer langen Leine geführt. Eine Leine, die ihm genügend
Bewegungsfreiheit rund um Frauchen ermöglicht, ihn nicht einengt. Und Frauchen
hat gelernt, den Hund an der Leine frei sein zu lassen. Ihn mal den Weg
vorgeben lassen, zu erkennen, wie und wohin er sich bewegen möchte, ihn lange
und ausführlich schnüffeln und forschen zu lassen. Frauchen stört den Hund an
der Leine nicht. Die beiden sind inzwischen „frei zu zweit“, sie sind nicht
angespannt, genießen jeden Gassigang, auf den sie sich freuen.
Und! Das ursprüngliche Problem, weswegen ich gerufen wurde,
löste sich im wahrsten Sinne von allein. Der entspannte Hund an der Leine
erledigte sein Geschäft wieder draußen statt in der Wohnung.
Rappeldose oder
Pfeife
Allerdings war es mir auch wichtig, dem Hund genügend
Gelegenheit zu geben, mal zu rennen und ohne Leine zu laufen. Das ermöglichen
wir ihm heute entweder in abgesichertem Gelände, oder in ausgewählten Gegenden
draußen, die übersichtlich und weit weg von Straßenverkehr sind. Zudem haben
wir ein neues Rückrufsignal etabliert, weil die Pfeife zu stark als Schreckreiz
unangenehm verknüpft war. Da der Hund auf das Rappeln seiner Leckerlidose sehr
aufmerksam und angenehm reagierte, haben wir eben diese Rappeldose neben dem
Wortsignal „Hier“ als positiv aufgebautes Rückrufsignal etabliert. Welches nur
selten, aber zuverlässig genutzt wurde. Und bis heute gut funktioniert.
In diesem Fall also ein klares „Nein“ zur Pfeife und ein
klares „Ja“ zu Rappeldose. Weil völlig anders eingesetzt als üblich – und
individuell zugeschnitten.
Individuell
einschätzen
Dieses Beispiel zeigt in meinen Augen sehr gut, dass man
Mensch/Hundgespanne, Situationen, Hundeausbildung etc. immer vollkommen
individuell für Mensch und individuell für den Hund einschätzen muss. Oft auch
individuell für mehrere Familienmitglieder, mehrere Hunde. Ich habe inzwischen
so viele „Fälle“ rund um Hunde und Hundehalter betreuen dürfen, dass ich sehr
genau weiß, wie unsinnig pauschale Methoden, Tipps und Sprüche rund um das Thema
sind. Unsinnig und auch unseriös.
Kein echtes Problem
der Hundeerziehung
Das Problem zwischen Mensch und Hund war in diesem Fall
relativ schnell individuell gelöst. Alles war und ist auch heute noch gut. Ein
entspanntes Paar, wunderbar zu sehen. Allerdings verstehen das viele Menschen
nicht. Viele quatschen die Hundehalterin insofern voll, dass sie doch ihren
Hund auf dem normalen Gassigang mal von der Leine lassen solle, das hätte alles
etwas mit Autorität, Bindung und Führung zu tun. Nein, das hat etwas mit den
ganz eigenen Persönlichkeiten und Geschichten der Akteure zu tun. Die den
besten Weg für ihr Zusammenleben finden müssen. Ohne pauschale Tipps und
Schlaumeiereien…
Das Problem liegt an
anderer Stelle
Wie man trotz Gerede und Erwartungen von außen trotzdem
entspannt bleibt, Selbstzweifel ausräumt und letztlich den Blick auf sich und
seinen Hund schärft, fällt eher in den Bereich der Humanpsychologie und hat
weniger mit dem Hund zu tun.
Der Hund und das Zusammenleben mit dem Hund ist von seiner
Besitzerin akzeptiert und gut so, wie es ist. Aber wie geht man mit der
menschlichen Umwelt um, die einen in ein pauschales Gesellschaftskorsett in
Sachen Hund zwängen will? Das ist die wahre Herausforderung. Nicht der Hund.